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 Drascha für die hohen Feiertage 5781 — Rabbiner drs Edward van Voolen, Abraham Geiger Kolleg an der Universität Potsdam

Schana towa! Wir feiern unsere Feiertage Rosch Haschana (Neujahr) und Jom Kippur (Versöhnungstag) in diesem Jahr wegen der Corona—Pandemie anders als in anderen Jahren. Die Botschaft ist aber um so stärker. Wir brauchen einander mit einer noch größeren Liebe als je zuvor. Und die Welt braucht noch mehr Zuwendung von uns Menschen als je zuvor. Liebe, Zuwendung, Achtsamkeit — darum dreht es sich an den Hohen Feiertagen.

Zur Vorbereitung diente der vorige Monat, Elul— geschrieben mit diesen Buchstaben: alef- lamed-wav-lamed. Es sind die gleichen vier Buchstaben, mit denen diese Worte anfangen: Ani ledodi, vedodi li „Ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter gehört mir." Worte aus Schir haSchirim, dem Hohelied (6:3), Worte, die die Braut zu ihrem Bräutigam sagt, oder zwei Menschen einander unter der Chuppa sagen, während sie einander einen Ring auf den Finger schieben. So wie ein Ehepaar sich mit diesen vier Worten, die mit den Buchstaben alef-lamed-wav-Iamed anfangen, miteinander verbindet, so hat der Monat Elul uns ermuntert und aufgerufen, uns miteinander zu verbinden, uns näher zueinander und vielleicht sogar näher zu G'tt zu bringen.

Wegen der Corona-Pandemie können wir die Feiertage nicht wie üblich gemeinsam in der Synagoge feiern. Und genau darum, weil es schwieriger ist, an diesen wichtigen Tagen unseres jüdischen Jahres zusammenzukommen, ist Verbindung und Nähe zueinander die wichtigste Herausforderung für alle Jüdinnen und Juden, für uns alle.

Liebe ist die zentrale Aufgabe, die zentrale Botschaft der Tora, des Judentums insgesamt. Liebe deinen Nächsten ist das zentrale Gebot der Tora, diese Worte stehen nicht umsonst genau in der Mitte der fünf Bücher Mose (Leviticus 19,18). Und wieso genau steht das Liebesgebot in der Mitte? Weil wir nach Ebenbild geschaffen sind (Genesis 1,26-27). Jedes Mal, wenn Du mit einer anderen Person in Kontakt bist, mit ihr redest, mit ihr telefonierst, und jedes Mal, wenn man einen Menschen ansieht oder ihr/ihm zuhört, schaust Du G'tt sozusagen ins Gesicht und hörst Stimme. Das Besondere ist, sagt Rabbi Akiva (Pirke Avot 3,14), dass uns dieses Wissen offenbart ist: wir wissen, dass wir nach Ebenbild geschaffen sind: so steht es ja im Buch Genesis geschrieben (Genesis 9,6). Die ganze Tora sowie das ganze Judentum ist ein Kommentar auf diesen einen Satz — sagte Rabbi Hillel, wenn er gebeten wurde, die zentrale Botschaft der Tora in einem Satz zusammenzufassen (Bab. Talmud, Schabbat 31a).

Sind wir in der Lage, einander Zuneigung zu geben? Ja, sagt der Philosoph und Rechtsgelehrte Maimonides (Rambam): Jede Person hat einen freien Willen. Wir bestimmen, ob wir den richtigen Weg wählen und gerecht handeln wollen; das liegt in unserer Macht, wir entscheiden freiwillig, was wir tun und lassen. Und auch wenn wir in die falsche Richtung gehen, liegt das in unserer Macht. Jeder und jede kann so gerecht und rechtschaffen sein wie Mosché Rabbénu oder ungerecht wie König Jerobeam (Rambam, Mischne Tora, Hilchot Teschuwa 5,1—2). Jede und jeder entscheidet, ob sie oder er barmherzig oder grausam, gemein oder großzügig sein möchte.

In den letzten Monaten wurden wir oft auf die Probe gestellt. Die Corona-Pandemie hat uns vor viele Entscheidungen gestellt. Entscheiden wir uns, ob wir uns an die Regeln halten wollen oder nicht? Gefährden wir anderen und unsere eigene Gesundheit? Oder versuchen wir, das zu vermeiden? Helfen wir anderen, die sich nicht helfen können, oder schauen wir weg und kümmern uns nur um uns selbst?

Niemand zwingt uns oder entscheidet für uns oder zieht uns in die eine oder andere Richtung; wir selbst haben die Freiheit, die Seite zu wählen, die wir wollen, sagt Maimonides. Dazu ermutigt uns auch die Tora: „Vor euch liegt die Wahl zwischen dem Segen und dem Fluch: Wählt den Segen.” (Deuteronomium 30)

Die zehn Tage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur sind Tage der Einkehr. Als Juden überprüfen wir weltweit unsere Taten des vergangenen Jahres. Ungerechtigkeiten zwischen Mitmenschen können wir nur durch Entschuldigungen wiedergutmachen. In der Mischna, einem frühen rabbinischen kanonischen Text, wird erklärt, dass man sich bis zu dreimal entschuldigen muss, bis sie angenommen werden, gegebenenfalls sogar mit Geschenken. Wenn die beleidigte Person in der Zwischenzeit gestorben ist, wird an der Grabstelle eine Entschuldigung ausgesprochen. Es scheint, dass die Wiedergutmachung sowohl für den Täter als auch für die betroffene Person etwas Notwendiges ist.

Während der Synagogendienste wird ein kollektives Bekenntnis zu einem alphabetischen Kompendium von Übertretungen abgelegt, z.B. Klatsch, Verrat, Veruntreuung (Aschamnu). Natürlich hat niemand all diese Verstöße begangen. Doch es gibt genug womit man sich identifizieren kann.

Die Notwendigkeit einer kollektiven Entschuldigung ist heute gesellschaftlich ein präsentes und lebhaft diskutiertes Thema: für den Holocaust, für die Rolle, die wir in der Kolonialzeit gespielt haben, für die Sklaverei und für Rassismus in unserer heutigen Gesellschaft. Man muss aber diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht persönlich begangen haben, um zu erkennen, dass Entschuldigungen notwendig sind: sowohl durch die Täter als auch für die Erniedrigten und Beleidigten. Nur dann ist ein Neuanfang möglich.

Maimonides sagt, dass man erst dann wirklich Teschuwa gemacht hat, wenn man wieder in die gleiche Situation gerät und dann das Richtige tut (Rambam, ibid 2,1). Jedes Mal werden wir im Leben erneut getestet: Was wählen wir? Wählen wir Liebe, Zuwendung, Achtsamkeit? Ani Iedodi, vedodi Ii / Ich gehöre Dir, so wie Du mir gehörst. Lasst uns füreinander da sein. Schana towa, möget ihr eingetragen werden ins Buch des Lebens.

Rabbiner Edward van Voolen

 

 Drascha zu Paraschat P'kudei — Seniorrabbiner Edward van Voolen

We - Jews and non-Jews - are all responsible for each other (cf Talmud Shevuot 39a).

An impressive part of the world supports Ukraine, the people in the country and the millions who are fleeing. They are welcomed, also here in Germany.

Numerous organisations and individuals are working 24/7 including our congregations, rabbis and our own Geiger students.

May the divine cloud that accompanied our people through the desert, protect them and all of us now, throughout this dangerous journey (today’s Torah reading P’kudei, Exodus 40,36).

In the words of John Lennon and the Plastic Ono Band, the anthem of the anti-war movement: „All we are saying is give peace a chance.“

Naftali Herz Imber from Zolochiv, Ukraine, said it 130 years ago, in what became Israel‘s national anthem: “Our hope is not lost, the hope of two thousand years.“

Rabbi Edward van Voolen
Abraham Geiger Kolleg, Universität Potsdam 

 Drascha Noach Göttingen 20.10.2023 — Rabbiner em. Dr.Edward van Voolen

Es sind fast schon zwei Wochen nach dem schockierenden und
barbarischen Angriff auf Israel - genau an dem Schabbat, an dem wir
Juden auf der ganzen Welt das Ende von Sukkot feierten und einen
neuen Zyklus von Lesungen aus der Tora begannen.
Wie lassen sich diese beiden Ereignisse miteinander verbinden?
Einerseits ein Terroranschlag in Israel gegen Juden, der in seiner
Grausamkeit nur mit dem vergleichbar ist, was Nazi-Deutschland in Babi
Yar und an vielen anderen Orten während der Shoah verübt hat, und
andererseits die allerersten Kapitel der Tora, Breschit und der heutige
Abschnitt Noach.
Als ich am 7. Oktober früh aufwachte und das Radio einschaltete, um die
Nachrichten zu hören, war ich schockiert über das, was der zweite Vers
vom ersten Bibelbuch Breschit, Genesis, ein Tohu WaWohu, ein totales
Chaos, nennt. Ich konnte keinen Ruach, keinen göttlichen Geist
erkennen, kein „Schweben Gottes über der Erde“. Stattdessen wurden
die Tore der Hölle geöffnet, die bis zum heutigen Tag eine „tiefe
Finsternis“, Choschech, zeigen (Gen 1,2-3).
In ihrer revolutionären Neuinterpretation der Bibel konzentrieren sich
talmudische Rabbiner, Kabbalisten und moderne jüdische Denker auf die
Frage nach dem Bösen, die sich in den ersten Kapiteln der Genesis auf
ergreifende Weise stellt - Kapiteln, die die gesamte Menschheit
betreffen.
Weil eine Schlange einen Keil zwischen die ersten Menschen trieb,
wurden Adam und Eva aus dem Gan Eden, dem Paradies vertrieben,
aus dem Zustand der Glückseligkeit und der Ruhe, in eine harte Realität
von Konkurrenz, Eifersucht und Mord. Ist das der Grund, warum "einer
über den anderen herrschen muss" (Gen 3:14, 15,16) - wir Menschen,
die wir alle nach Gottes Ebenbild geschaffen wurden, erniedrigen andere
Menschen und behandeln unsere Mitmenschen wie Ungeziefer?
Und dann kümmern sich zwei Brüder, die ersten auf der Erde, nicht
umeinander: "Bin ich der Hüter meines Bruders?", erwidert Kain, als Gott
1ihn fragt, warum er Abel getötet hat. Daraufhin sagt Gott: "Das Blut
deines Bruders schreit zu mir aus der Erde". Tragen die heutigen
Nachkommen von zwei anderen Brüdern, Isaak und Ismael, das Zeichen
von Kain? Kann das Böse jemals überwunden werden, ist uns nicht
bewusst, dass wir alle "zum Staub zurückkehren" (Gen 3,2)? Leiden wir
nicht alle unter dieser siebenfachen Rache, wie die Bibel es nennt?
Ist es das, was mit Tzimtzum gemeint ist, wenn Gott sich zurückzieht und
im Hintergrund verschwindet? Ist es das, was passiert, wenn die Leere,
die dieser Rückzug verursacht, es den Menschen erlaubt, das
Kommando zu übernehmen, wenn Menschen, die die Wahl zwischen
Gut und Böse haben, sich für das ultimative Böse entscheiden?
Das ist es, was Rabbi Isaac Luria in seiner bemerkenswerten
kabbalistischen Antwort auf das Leiden der Juden vor und nach der
Vertreibung aus Spanien und Portugal erforscht, eine Antwort, die in
diesen Tagen - während der andauernden grausamen Kriege in der Welt
- häufig und laut ertönt.
Was geschieht, wenn Gott nicht handelt oder eingreift? Warum handelt
oder greift Gott nicht ein, und was sind die Folgen dieser Passivität?
In dem ProphetenAbschnitt, in der Haftarah zu Breschit aus dem Buch
Jesaja heißt es: "Ich habe geschwiegen, stillgehalten und mich
zurückgehalten" (Jes 42,14) - traditionell verstanden als das Schweigen
Gottes nach der Zerstörung des Zweiten Tempels. Doch im nächsten
Teil des Verses heißt es: "Ich werde schreien wie eine Frau in den
Wehen" - wie ist das zu verstehen?
In einer revolutionären Idee, die im Talmud entwickelt wurde, wird
gesagt, dass auch Gott leidet. Ein talmudische Text besagt, dass man
Gott sogar mitten in der Nacht wie einen Löwen brüllen hören kann, weil
er über die Zerstörung des Tempels trauert. Isaak Luria fokussiert und
erweitert den Gedanken, dass diese Frau in den Wehen den weiblichen
Aspekt Gottes, die Schechinah, darstellt. Sie begleitete uns vor und nach
der Vertreibung aus Spanien und Portugal, und sie tut es weiterhin
während des Leidens, das wir alle seither ertragen müssen - jetzt in
Israel. Ein leidender Gott, der gleichzeitig und in seinem eigenen
Interesse "nach Tzedek, nach Gerechtigkeit, nach Rehabilitation trachtet,
damit Er seine Tora verherrlicht", wie Jesaja weiterschreibt (42,21).
2In dem heutigen Wochenabschnitt, Noach, beschließt Gott mit einem
einzigen Menschen, Noach, einen Neuanfang zu machen. Er, seine
Familie und die von ihnen geretteten Tiere sind die ersten Überlebenden
einer universellen Katastrophe in der Welt. Noach wird als der erste
Gerechte, Tzadik, charakterisiert, der untadelig war und mit Gott
wandelte (Gen 6,9). Noach wurde zum ersten Träger eines Bundes, der
sieben noch immer gültige universelle ethische Regeln für die gesamte
Menschheit enthielt, darunter die Verpflichtung, Gerichte einzurichten -
wie bedeutungsvoll, noch immer.
Der Regenbogen ist ein kraftvolles Symbol für diesen Bund - und
gleichzeitig ein Aufruf zur Versöhnung.
Während der Tora-Abschnitt besagt, dass Gott in seinem Bund mit
Noach verspricht, die Erde und ihre Bewohner nie wieder zu zerstören
(lo ... od), sagt Gott in der Haftara zum jüdischen Volk: "- al tiri, lo
tevoshi, fürchtet euch nicht, schämt euch nicht, und gedenkt dieser
Cherpah, Schande, lo od, nie wieder. Stattdessen „schwöre ich, dass
mein Bund des Friedens, Brit Schalom, nicht erschüttert werden wird“
(Jesaja 54, 4). Und wiederum gibt Gott zu: "Eine kleine Weile habe ich
dich verlassen, und einen Augenblick lang habe ich mein Angesicht
verborgen" (Jesaja 54,7-8).
Die Wahl zwischen Gut und Böse ist uns Menschen gegeben, es gibt
kein Entrinnen. Das Böse ist eine Realität, eine Folge der menschlichen
Freiheit. Eine entmutigende und sogar beängstigende Herausforderung,
denn die Verantwortung liegt bei uns Menschen. Kein Volk hat mehr
Erfahrung mit den Folgen des ultimativen Bösen als wir Juden, in der
Geschichte und heute, in Israel.
Noach repräsentiert den rechtschaffenen Menschen, der nach dem Resh
Lakish das moralische Rückgrat hatte, um in einer unmoralischen
Gesellschaft ein moralischer Mensch zu sein (bTalmud Sanhedrin 108a).
Noach ist ein einzigartiges Individuum, das die Kraft hatte, dem Druck
der Gesellschaft zu widerstehen. Nach all dem Druck, dem er ausgesetzt
war, kann ich mir vorstellen, warum er sich betrunken hat - jeder hat
Fehler, niemand ist perfekt. In seiner Einsamkeit und als Überlebender
3einer Katastrophe bleibt Noach ein besonderer Mensch, ein spirituell
Suchender, ein Anführer mit einem klaren Kompass.
Neben Noach, dem "einsamen Mann des Glaubens" (so der Titel eines
berühmten Artikels des Rabbiners Joseph Soloveitchik) steht die
Botschaft Jesajas in der Haftarah, für uns alle, in Israel und hier und
heute:
"Ihr alle, Kinder des Ewigen,
groß soll das Glück eurer Kinder sein;
ihr werdet Tzedakah, Gerechtigkeit, einführen;
ihr werdet sicher sein,
ihr werdet keine Angst haben;
und keine Waffe gegen euch soll Erfolg haben." (Jes 54: 13-17)
WeChen yehi ratzon - möge dies der Fall sein.
Edward van Voolen

Diesen Text zum Download (PDF-Dateien):

 

 Sonnabend, den 18. April 2020: Omer zählt — Rabbiner drs Edward van Voolen, Abraham Geiger Kolleg an der Universität Potsdam

Pessach und Schawuot sind auf die gleiche Art miteinander verbunden wie Ostern mit Pfingsten: Zwischen den Feiertagen liegen sieben mal sieben Tage. Pessach feiert die Befreiung aus der ägypCschen Sklaverei und die Entstehung des jüdischen Volkes. Am fünfzigsten Tag nach Pessach, am Schawuot (Wochenfest) wurde die Tora auf Sinai offenbart – in 70 Sprachen, für die ganze Menschheit. Hier entstand das Judentum.

Juden zählen 49 Tage Omer, die Garben der ersten Frühlingsernte, die in biblischen Zeiten im Tempel geopfert wurden. Die Omer-Zeit bezieht sich aber auch auf die lange und gefährliche Reise durch die Wüste von Ägypten zum versprochenen Land, begleitet von Hunger, Seuchen und feindlichen Angriffen. Diese Erinnerung ist bis heute prägend.

Der Talmud erzählt, wie tausende Schüler von Rabbi Akiba (50-135) von einer Plage und den Römern heimgesucht wurden. Nicht nur deswegen ist die Omer-Zeit zu einer Trauerzeit geworden – im Laufe der Jahrhunderte haben weitere Heimsuchungen stabgefunden, wie im Mibelalter, wenn Juden von Kreuzfahrern auf dem Weg ins Heilige Land ermordet wurden. Und bis in die Moderne wurden sie beschuldigt, Plagen wie Pest und Cholera verursacht zu haben. Auch der Shoa wird in der Omer-Zeit gedacht.

Abgesehen vom Feiertag zu Israels Unabhängigkeit, gibt es seit der frühen Moderne nur eine Ausnahme in dieser Trauerzeit: LaG baOmer (die Buchstabe Lamed ist 30, Gimmel 3), der 33. Tag nach Pessach, in diesem Jahr am 12. Mai. Eine Erleichterung der Plage, ein kurzfrisCger Erfolg im Kampf gegen die Römer wurde mit dem Sterbetag von Akibas Schüler Rabbi Schimon bar Jochai verbunden, der beides überlebt habe. Ihm wird tradiConell den Sohar, das Hauptwerk der jüdischen MysCk zugeschrieben. Hunderbausende Juden aus aller Welt pilgern zu seinem Grab in Meron in der Nähe von Safed, im israelischen Galiläa. Picknicks und Freudenfeuer bieten einen faszinierenden Anblick. Die Trauerzeit ist aufgehoben, und man darf auch wieder heiraten.

Jetzt leiden wir alle unter einer neuen weltweiten Seuche, die uns verfolgt. Feiern tun wir trotzdem, aber zu Hause. Dass wir uns digital verbinden und uns untereinander solidarisieren, ist im Sinne unserer demokraCschen Staaten und unserer Religionen, für die der Schutz des Menschenlebens und der Nächstenliebe zentrale Bedeutung hat. Nächstes Jahr feiern wir wieder zusammen, in unseren Kirchen, Synagogen und Moscheen.

 

 Freitag, den 5. Juni 2020: Drascha Naso „Segne!“ — Rabbiner drs Edward van Voolen, Abraham Geiger Kolleg an der Universität Potsdam

Die priesterliche Handsprache mit gespreizten Fingern ist weltberühmt geworden seit dem vulkanischen Gruß vom Star-Trek-Figur "Spock", gespielt von Leonard Nimoy. Er sah es zum ersten Mal, als sein Großvater ihn in eine orthodoxe Synagoge mitnahm. Er spürte, dass es etwas besonders war.

In orthodoxen und vielen konservativen Synagogen wird der "priesterlichen Segen" Birkat Kohanim, der in unserer Parascha Naso zu finden ist, ganz ohne besondere Fanfare an Wochentagen und am Schabbat bei der Wiederholung der Amidah gesungen. Aber an Feiertagen wird es morgens von Kohanim selber ausgesprochen, die in der Tradition der biblischen Priester stehen. Kurz nach der K'duschah, dem dritten Lobspruch in der Amidah, dem "Heiligkeits"-Gebet, verlassen die Kohanim die Synagoge, ziehen ihre Schuhe aus und waschen ihre Hände. Jeder Kohen bedeckt sein Gesicht mit einem Tallit, um die Menschen nicht abzulenken und zu verhindern, sie anzuschauen. Der Gemeinde zugewandt spreizen sie ihre ausgestreckten Finger, um den hebräischen Buchstaben schin zu bilden, den ersten Buchstaben des hebräischen Wortes Schaddai, das so viel wie "Allmächtiger Gott" bedeutet. Um sicherzustellen, dass die Kohanim die Worte richtig aussprechen, singt der Chasan jedes Wort zuerst aus dem gedruckten Gebetbuch und danach wiederholen die Kohanim es. Dann kehren sie zu ihren Sitzen zurück und werden wieder gewöhnliche Beter in der Gemeinde. Auch in vielen unserer Liberalen Gemeinden ist es üblich, dass der Rabbiner am Ende des G’ttesdienstes den priesterlichen Segen ausspricht. Dieser Brauch geht zurück auf dem ersten öffentlichen Gottesdienst nach der Einweihung der Stiftshütte in der Wüste, wo Aharon, der erste Kohen, auch seine Hände spreizte, um das Ganze Volk zu segnen (Levitikus 9,21-22).

Ist das nicht merkwürdig? Das Liberale Judentum lehnt doch schon immer den Begriff des Priesterstatus ab? Klar, als der Tempel in Jerusalem noch stand, führten Priester und Leviten den Opferkult durch, sangen und spielten die begleitenden Melodien und waren für die physische Instandhaltung des Tempels verantwortlich. Doch nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 gingen diese Aufgaben und das damit verbundene Prestige verloren - zumindest bis der Messias kommt, um den Tempel wiederaufzubauen und den Priesterkult wiederherzustellen. Um diesen Statusverlust der Kohanim zu lindern, den Schmerz, sich plötzlich nicht privilegierter als das einfache Volk zu fühlen, wurden den Priestern und Leviten einige Höflichkeiten zuteil, wie z.B. vor allen anderen Juden zur Tora aufgerufen zu werden und mehrmals im Jahr vor der Gemeinde zu stehen und Birkat Kohanim zu rezitieren. Als moderne, egalitäre Religion wollte die Reformbewegung aber nichts davon haben. Auch das folgt früheren Präzedenzfällen. Nicht nur Liberale Juden heute, aber sogar die biblischen Israeliten waren misstrauisch gegenüber priesterlichen Vorrechten - eine Tatsache, die schon von früheren Rabbinern aufgegriffen wurde, als sie unsere Parascha kommentierten. Sie weisen darauf hin, dass die Anweisung "So sollst du das Volk Israel segnen" impliziert, dass die Priester sich darauf beschränken sollten, Wort für Wort zu wiederholen, was Gott ihnen zu sagen hat. Das tragische Schicksal von Aharons Söhnen Nadaw und Awihu, die mit dem Tod bestraft wurden, weil sie "vor dem ewigen fremden Feuer" geopfert hatten, ist nach rabbinischer Auffassung eine Ermahnung an die Priester, den Gottesdienst genau nach den Anweisungen, die Gott ihnen gab, durchzuführen (Levitikus 10,1-2). Darüber hinaus wird anschliessend an den Priestersegen in Numeri 6,27 1gesagt: „Wenn sie meinen Namen aussprechen, werde Ich, Gott, euch segnen.“ Es ist Gott, der das Volk segnet, nicht die Kohanim.

Die Trennlinien zwischen Priester und Volk werden allmählich weiter verwischt. Die priesterliche Autorität ist schon in der Bibel demokratisiert. So sagt Gott unmittelbar bevor er die Zehn Gebote gibt, zu den Israeliten: "Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein" (Exodus 19,6). Dem jüdischen Volk als Mamlèchet Kohanim, Königreich von Priestern, bekommt also eine besondere Verantwortung übertragen, wobei das Volk sich wie Priester auszeichnen sollten durch eine besondere Lebensweise, die dem Dienst an Gott geweiht und den Bedürfnissen des Volkes gewidmet ist. Dies ist die Aufgabe, die Juden in ihrer Rolle als „Licht unter den Nationen“ in der Welt haben, in einer dienenden Rolle „an allen Menschen, bis an das Ende der Erde“ (Jesaja 49,6). Kohanim, aber auch Rabbiner haben dank dieses Impulses zur Demokratisierung längst nicht mehr das Alleinrecht den Priestersegen auszusprechen. Jede Jüdin, jeder Jude hat das Recht, ihn auszusprechen. Sowie Rabbiner und Kantoren B'nei und Bnot Mitzwa, Paare unter der Chuppah und Juden nach Wahl segnen, segnen ja auch Eltern ihre Kinder am Schabbat am Tisch.

Segnungen gehen weit über High Fives und ein Schulterklopfen, eine Umarmung hinaus – wie sehr ich mir auch wünsche, das irgendwann wieder machen zu dürfen. Birkat Kohanim wird diese Woche am Schabbat überall in der Welt verlesen, zu Hause oder in der Synagoge. Der Text gehört nicht mehr nur den Priester: Der Text gehört uns allen. Sowie der biblische Priester das Volk segnete, und das Volk so letztendlich von Gott gesegnet wurde, so sollten wir diesen wunderschönen Text einander zusprechen, einer teuren Freundin oder einem teuren Freund, damit diese Person von Gott gesegnet wird. Die alten biblischen Worte können eine sehr spirituell befriedigende Wirkung haben. Wie gesegnete Kinder bekommen gesegnete Erwachsenen eine besondere Ausstrahlung, die mit Sicherheit etwas mit der Gegenwart Gottes zu tun hat. Genau das ist die beabsichtigte Wirkung von Birkat Kohanim. Die Tora selbst bietet die Erklärung dafür, warum Gott den Priestern befiehlt, diesen Segen auszusprechen: "So werden sie meinen Namen mit dem Volk Israel verbinden, und werde Ich, Gott sie segnen" (Numeri 6,27). Vielleicht sollten auch wir nicht nur die Kinder, aber auch einander am Schabbat segnen, oder auch einfach während der Woche. Und wenn wir diesen Segen erteilen, können wir alle dazu beitragen, dass Gottes Gegenwart um uns herum spürbar wird.

Ken Jehi Ratzon, so möge geschehen. Schabbat schalom.

 Sonntag, den 16. Mai 2021: Schawuot und Solidarität — Rabbiner Drs Edward van Voolen, Abraham Geiger Kolleg, Universität Potsdam

Warum lesen wir an Schawuot die Megillat  Rut, die Rut-Rolle? Diese im ländlichen Milieu inszenierte Erzählung spielt in der Erntezeit – Chag haKatzir (Erntefest, Num 28,26) und Jom haBikurim (Tag der Erstlinge, Ex 23,16) – dies sind die alternativen Namen für Chag haSchawuot (Wochenfest, Dtn 16,10), das wir sieben Wochen lang (Schawuot) nach Pessach feiern.

Die folgende Aussage von Rut bewegt mich besonders: „Dränge mich [Rut] nicht länger, dich [Naomi] zu verlassen und zurückzugehen, von dir weg. Denn wohin du gehst, dahin werde auch ich gehen, und wo du übernachtest, da werde auch ich übernachten; dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da werde auch ich sterben, und dort will ich begraben werden. Der Ewiger ist mein Zeuge: Nur der Tod wird mich von dir trennen“ (Rut 1,16f).

Rut, eine nicht-jüdische moabitische Frau, solidarisiert sich nach dem Tod ihres Mannes mit ihrer Schwiegermutter Naomi. Naomi lässt sich von ihren Worten überzeugen und beide entscheiden sich für einen gemeinsamen Lebensweg. Kurz darauf heiratet Rut Boas. Sie bekommen einen Sohn, der später Jischai zeugt, den Vater Davids, den Stammvater des uns verheißenen Messias. Ihre Aussage hat also große Konsequenzen!

Auffällig ist, dass Rut zuerst das Volk und erst danach den Gott ihrer Schwiegermutter erwähnt. Zuerst die praktische Solidarisierung, dann die theologische. Bis der Tod sie trennt. Würde meine Solidarität mit anderen so weit gehen? Könnte ich mich engagieren für eine arme Frau, die wegen Hungersnot aus ihrem Land geflüchtet ist und jetzt mit einer verwitweten Schwiegertochter mittellos nach Hause zurückkehrt?

Leben bedeutet, sich um andere Menschen zu kümmern. Erst danach kommt die Ideologie, die Theologie – so Rut. Oder kommt die Theorie zuerst, und trägt und motiviert unsere Entscheidungen? Mit diesem Spannungsfeld beschäftigt sich Schawuot: Wir lesen zwei zentrale Texte, Gottes prägende Zehn Worte und Ruts bewegende Aussagen.

Im Buch Rut betrachtet eine Familie insbesondere die Verpflichtung ihren Mitgliedern gegenüber, die in Armut gefallen sind, als zentral. Zusätzlich spielt Erbschaft für Frauen eine Rolle. Und schließlich das Verhältnis zwischen Juden und anderen Völkern. Das Buch Rut bestreitet den Standpunkt, dass eine Ehe mit einer ausländischen Frau nicht erlaubt sei. Das sind große Themen, die uns noch immer beschäftigen.

Jeder Mensch steht jedes Jahr an Schawuot am Fuß des Berges Sinai und empfängt die Tora, die Weisung. In den vielen Krisen nach der Zerstörung des Tempels, in Zeiten der Verfolgung und von Epidemien wie der heutigen, sind die Worte der Tora aber nicht immer einfach hinzunehmen. Zu oft triumphiert das Böse. Ganz in der biblischen Tradition – wobei Abraham, Moses oder die Propheten regelmäßig mit Gott streiten, ob der Ewige sich denn an Seine eigenen Gesetze hält – entwickeln die Rabbiner das Konzept eines Dialogs, manchmal sogar eines Streitgesprächs: Wenn Gott schweigt, sprechen wir (im Gebet oder beim Studium), und Gott hört uns hoffentlich zu. Es ist unsere Aufgabe, die Schöpfung zu ergänzen, zu vollenden (Tikkun Olam).

Das ist auch ein Grund, weswegen das Buch Rut so gut zu Schawuot und zu unserer Zeit passt: Hungersnot, Flucht, Exil, sterbende Menschen ohne Nachkommen, Witwen und verwaiste Kinder, ohne Schutz. Rut, die kaum mehr eine Perspektive hatte, hat Naomi nicht im Stich gelassen. Sie hat sich mit Naomi solidarisiert und ihren Gott angenommen.

Damals sind wir aus Ägypten befreit worden und haben am Sinai gestanden. Ist die Welt besser geworden, hat die Sklaverei aufgehört zu existieren? Ist Ungleichheit abgeschafft, sind Gier und Ausbeutung verschwunden? Wächst die Kluft zwischen reich und arm nicht vielmehr erschreckend stark? Die heutige Realität von Leiden und Unrecht steht in schroffem Kontrast zu „Gott schuf die Menschen nach Seinem Ebenbild, als Mann und Frau schuf Er sie“ (Gen 1,27), solange ethnische, sexuelle und religiöse Minderheiten, Farbige und Frauen diskriminiert werden. Das Buch Rut sagt zugespitzt, dass aus unfruchtbarem, blutgetränktem Boden neues Leben entstehen und aus dem Stamme Jischais ein neuer Reis entspriessen kann: König David, der Vorfahre des verheißenen Messias. Kein Verlust oder Hunger kann die Hoffnung auf Befreiung und Offenbarung zerstören – wie schwierig das auch zu erkennen sein mag, wenn man selbst in dieser Situation ist.

Rut macht uns klar, dass Liebe stärker ist als der Tod. Rut bedeutet, dass messianische Perspektiven geboren werden in einer Zeit, in der vieles zerstört ist. Die Aussage Ruts (in unserer Tradition als ihre freiwillige Aufnahme ins Judentum interpretiert) ermutigt mich jeden Tag, meine Liebe zum Judentum in Taten umzusetzen. Dann spüre ich, dass ich wieder am Sinai stehe, zusammen mit den Generationen vor mir, mit den Toten und Ermordeten sowie mit den Lebenden, die sich nach Hoffnung sehnen, und mit den Ungeborenen, für die ich die Welt jetzt besser gestalten möchte. Rut bewegt mich bis heute ganz besonders.

--Edward van Voolen

 Freitag, den 11. Juni 2021: Drascha Korach — Rabbinerin Jasmin Adriani

Liebe Gemeinde,

 

Heute ist nicht nur Schabbat, sondern auch Rosch Chodesch. Der Monat Tammus beginnt. In diesem Monat haben wir den Fastentag vom 17. Tammus (27.06.), mit dem die drei Wochen der Trauer über die Zerstörung der beiden Tempel in Jerusalem beginnen, die dann am 9. Av enden (17.07.).

 

Warum wurde der Tempel zerstört? Darauf gibt es natürlich viele Antworten in der rabbinischen Literatur, aber die berühmteste Antwort findet sich im Talmud in Yoma, wo es heißt: Der zweite Tempel, in dem sie Torah lernten - gute Taten taten – warum wurde der zerstört? Wegen Sin'at chinam, grundlosem Hass. Das Volk war zerspalten und die verschiedenen Lager standen sich wegen Nichtigkeiten feindselig gegenüber.

Auch die Parascha diese Woche erzählt von Hass, Aufruhe und Spaltung: Der Rebellion von Korach.

Die Israeliten sind in der Wüste und Moscheh muss wieder einmal große Herausforderungen bewältigen. Sein Bruder Ahron ist der Hohepriester, der Cohen hagadol, und seine Söhne sind die Priester. Eines Tages erhebt sich Korach, ein Levit, die den Priestern dienlich sein sollen, gemeinsam mit 250 Stammesfürsten und Datan und Abiram aus dem Stamme Re´uwens.

Sie wenden sich an Moscheh und Ahron mit den Worten: „Genug mit euch! Kol haEdah kulam kedoschim! Denn die ganze Gemeinde allesamt sind heilig und unter ihnen ist der Ewige! Und warum erhebt ihr euch über die Versammlung des Ewigen?“

Sie fordern die Autorität heraus und wollen ebenfalls Teil an der Entscheidungsfindung sein. Moderne Kommentatoren sehen hier den Wunsch nach mehr Demokratie. Die traditionelle Bibelauslegung sieht Korach und die Seinen freilich sehr kritisch.

Rashi beispielsweise versucht die Psyche Korachs zu analysieren: Er war der Cousin von Moscheh, denn Moschehs Vater Amram war der älteste Bruder, der zweitälteste war Korachs Vater Jizhar und der dritte Bruder war Usiel. Moscheh und Ahron nahmen ihre Positionen ein, die durch das Erstgeborenenrecht gesichert war. Anstatt dann aber Korach als Stammesfürst, als Nasi, einzusetzen, bekam diese Ehrung Elitzafan ben Uziel, der Sohn des jüngsten Bruders und Korach wurde übergangen. Eifersucht und verletzte Eitelkeit sind Raschi zu Folge also die Triebkräfte hinter Korachs Machtbestrebungen.

Moscheh kündigt an, dass es eine Prüfung geben soll, wen G´tt als die Führer der Israeliten haben möchte: Alle Aufständischen und Moscheh und Ahron sollen sich mit ihren Räucherpfannen aufstellen. Hierbei handelt es sich um ein kleines Gefäß, in dem auf glühenden Kohlen Weihrauch oder Kräuter verbrannt wurden. Die Rebellierenden waren mit dieser Prüfung einverstanden und am nächsten Morgen stellten sich alle mit ihrem mobilen Altar auf. Plötzlich „spaltete sich der Boden unter ihnen und die Erde öffnete ihren Mund und verschlang sie und ihre Häuser und alle Menschen, die Korach gehörten, und alle Habe, dass sie und alle ihren hinabfuhren lebendig in die Scheol und die Erde sie deckte und sie verschwanden aus der Versammlung. Und ganz Israel, das ringsum sie stand, floh bei ihrem Geschrei. Und ein Feuer ging aus von den Seiten des Ewigen und verzehrte die 250 Männer.“

Auf diese Weise war die unbestreitbare Autorität von Moscheh und Ahron wieder hergestellt ohne wenn und aber.

Auch wir kennen Spaltung in der Gesellschaft, konkurrierende Gruppen, aber zumeist ohne ein g´ttliches Zeichen zu bekommen, welche Streitpartei Recht hat.

Gerade im letzten Jahr wurden unter den besonderen Umständen der Pandemie viele Gesellschaften auf die Zerreisprobe gestellt. In Israel führte dies zu verschiedenen Spaltungen. Eine ganze Zeit lang wurde sich sehr über die Orthodoxen geärgert, denen man einen laxen Umgang mit der Krankheit vorwarf. In den letzten Wochen kam es zu erheblichen Spannungen mit der arabischen Bevölkerung Israels und den arabischen Nachbarn. Nun gab es Wahlen und die Hoffnung ist da, dass es unter der Beteiligung einer arabischen Partei auch wieder zu mehr Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Menschen kommt. Das breite Bündnis aus 8 Parteien, das am Sonntag vereidigt werden soll, hat die Chance abgebrochene Brücken neu zu bauen.

Auch wir in Deutschland wurden durch Corona auseinander getrieben. Neben Querdenkern und undemokratischen Parteien stellte auch die soziale Isolierung eine große Schwierigkeit dar. Auch hier spüren wir wieder Hoffnung und müssen langsam und behutsam wieder zusammenwachsen.

Eine Stelle unseres Torahabschnitts ist mir sehr ins Auge gefallen: „Und Moscheh sprach zu Ahron: Nimm die Räucherpfanne und tue Feuer vom Altar darauf und lege Räucherwerk auf und bring es eilends unter die Gemeinde und entsühne sie, denn der Zorn ging aus vom Ewigen her, die Plage hat begonnen! Und Ahron nahm, wie Moscheh geredet, und lief mitten unter die Versammlung, und siehe, die Plage hatte im Volke begonnen; und er legte das Räucherwerk auf und entsühnte das Volk.“ (17, 12) So beendete er die Plage, der 14700 Menschen zum Opfer gefallen waren. Laut RKI :-)

Ein Heilmittel gegen die Plage? Das erinnert stark an die Coronaimpfung!

Oft kommt mir die Welt so voll vor. So viele Menschen mit ihren Bedürfnissen und ihrer Meinung. Streit und Zerwürfnis wie oben geschildert. Nun muss ich aber zugeben: Ich selbst habe überhaupt nichts zu dem Heilmittel beigetragen, das ich nun auch endlich verabreicht bekommen habe. Ich habe nicht dafür geforscht, habe es nicht entwickelt, nicht bei der Produktion oder Verteilung geholfen, nicht die Glasfläschchen oder Kanülen hergestellt. Ich kann mir nicht einmal die Spritze selber geben. Und trotzdem profitiere ich. Und dann auch noch ohne dafür extra zu bezahlen. Diese Erkenntnis macht mich erstens demütig und zweitens doch dankbar für meine vielen verschieden begabten Mitmenschen. Dass wir es wirklich geschafft haben werden unsere Gesellschaft zu immunisieren, ist ein starkes Stück Teamwork. Es ist Zeuge dafür, dass unser Gesellschaftssystem funktioniert und alle voneinander profitieren können!

Gerade nun also, wenn wir uns an den Sinat chinam, den überflüssigen, grundlosen, verschwendeten Hass erinnern, der zu der Zerstörung der beiden Tempel führte, können wir uns freuen über Ahawat chinam – grundlose Liebe. Lasst uns alle mitwirken, unsere Gesellschaft wieder zusammen zu bringen. Den Schlom Baijt, den Hausfrieden, wieder herzustellen. Ahawat chinam zu verbreiten.

Ich wünsche uns einen friedlichen und liebevollen Schabbat.

Schabbat schalom umeworach!


 

 Freitag, den 3. Dezember 2021: Drascha zu Kabbalat Schabbat Chanukka — Rabbinerin Jasmin Adriani

 Freitag, den 10. Juni 2022: Drascha zu Paraschat Nasso, 11/12 Sivan 5782 — Avigail Ben Dor Niv

Wenn wir etwas berühren, das ganz ist, wie eine schöne Blume, ein Gedicht, ein Gemälde, haben wir immer das Gefühl, dass nichts verändert werden kann, dass alles an seinem Platz ist. Wir denken selten daran, es in seine Einzelteile zu zerlegen und neu zusammenzusetzen. Wenn wir eine wahrhaft vollständige Tradition suchen, suchen wir oft etwas, das perfekt von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

Im Toraabschnitt dieser Woche, Paraschat Nasso, wird die Stiftshütte, der Mischkan, eingeweiht und geheiligt. Dies steht am Ende der Parascha, davor wird etwas ganz anderes ausführlich beschrieben - die Zerlegung des Mischkan in Teile. Er nimmt die detaillierte, komplexe Architektur der Stiftshütte, die in mehr als 14 Paraschot beschrieben wird, mit ihren vielen Teilen, teuren Werkzeugen und ihrem perfekten Design - nur um sie dann wieder in Stücke zu brechen.

Das Wort "Nasso" bedeutet "tragen", und der Abbau der Stiftshütte muss erfolgen, um die ganze perfekte Stiftshütte durch die Wüste Sinai zu tragen, während die Israliten sich auf den Weg in das gelobte Land machen. Es handelt sich, wie immer in den 5 Büchern Mose, um einen mobilen Tempel für mobile Menschen. Er ist noch nicht, wie der spätere Tempel, an einem glanzvollen Ort errichtet. Deshalb beinhaltet er auch eine andere Vorstellung von Gott, der uns nahe ist, von uns getragen wird - ein Teil von uns ist.

Wenn ich über diesen wichtigen Teil unserer Religion, das Tragen Gottes, nachdenke, denke ich sofort an dieses Verbs, tragen, NAS, was im biblischen Hebräisch bedeutet - vergeben. Abraham fragt Gott vor Sdom und Amora: "Wirst du ihnen nicht vergeben, wenn es 50 Gerechte unter ihnen gibt?", Er fragt tatsächlich: "Wirst du sie nicht tragen? (1.Mose 18:24). Die Brüder von Josef bitten ihn: "Ach vergib doch die Abtrünnigkeit deiner Brüder", aber das Hebräische sagt: "Bitte trage unsere Last" (1.Mose 50:17)

Dies ist ein sehr schönes Verständnis der Bibel in Bezug auf Vergebung. Vergebung bedeutet nicht, eine schlechte Tat, die uns angetan wurde, zu vergessen oder zu verdrängen. Biblische Vergebung ist immer ein Tragen. z.B.s, Wenn ein Freund uns unrecht getan hat, und wir wollen ihn vergeben, d. h. das wir tragen sollen das Wissen um das begangene Unrecht während der gesamten Dauer der Beziehung. Kain sagt, nachdem er seinen Bruder Hevel getötet hat: "Meine Schuld ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte" (1.Mose 4:13). Da Kain niemanden hat, den er um Vergebung bitten kann, bleibt er mit seiner Schuld allein.

Der französisch-jüdische Philosoph Jacques Derrida sagt, dass wir das Verb "vergeben" oft mit dem Verb "vergessen" gleichsetzen, aber das seien zwei verschiedene Dinge. Vergebung ist nicht für die alltäglichen Taten nötig, sondern nur für die schwerwiegenden Dinge, die uns angetan wurden. Wir werden die kleinen Dinge sowieso vergessen und weitergehen, aber die wirklich wichtigen Dinge, wieVertrauensbruch, sind die Dinge, die Vergebung erfordern, und sind die Dinge, die in ihrem Kern nicht vergeben werden können, deshalb sagt er: "Vergebung ist nur für das erforderlich, was nicht vergeben werden kann". Dieses Vergeben im Sinne Derridas ist gleich mit dem biblischen Begriff des "Tragens".

Und was ist die Verbindung zwischen den beiden Bedeutungen des Tragens, der Vergebung und des abgebauten Tempels?

Vielleicht hat Vergebung mit unserer eigenen Fähigkeit zu tun, abzubauen und wieder aufzubauen, vielleicht ist es das, was wir vergeben, was wir tragen, das uns verspricht, dass wir weitergehen werden, flexibel, in Teilen, aber ganz.

Die Stiftshütte mit ihrer perfekten göttlichen Architektur ist neben ihrer Heiligkeit, ihrer Ganzheit, ein modularer Tempel, ein tragbarer Tempel. Er ist noch nicht der versteinerte Tempel in Jerusalem, ein Tempel, der am Ende zweimal zerstört wurde. Denn Steine und Mauern werden zerstört. Aber das Ganze kann nur ganz bleiben, wenn es flexibel ist, wenn es fragmentiert ist.

Für die Weisen, die nach der Zerstörung des zweiten Tempels schrieben, wurde Gott wieder demontiert, d.h. neu zusammengesetzt. Was wir Zerstörung nennen, war für sie eine Chance, eine ganze Gottheit zusammenzusetzen, die nicht wieder zerstört werden kann - weil sie in uns getragen wird. Für sie war die Zerstörung ein Aufbau, ein Wiederaufbau eines unzerbrechlichen Glaubens.

Dies ist das gleiche Judentum, das wir heute in uns tragen. Es ist keine vollständige und vollkommene Tradition, aber wir tragen gebrochene Traditionen in uns, zerschnitten und wieder zusammengesetzt, ausgelöscht und wieder zusammengefügt. Das soll nicht heißen, dass wir etwas falsch machen, aber wir gehen weiter, wir müssen Gott mit uns tragen, in seiner zerlegten Form.

Wir wissen, dass der Mensch flexibel und beweglich ist, wir wissen, dass wir mehr als einmal zerlegt wurden und dass wir wiederaufgebaut werden. Wir sind komplex und wir tragen viel - wir tragen unsere Selichot, unsere Vergebungen und vielleicht werden wir noch mehr tragen. Wir tragen unsere Vergangenheit, Traditionen, die wir bekommen haben, Traditionen, die wir verloren haben, Traditionen, die wir erfunden haben... und dennoch - wir sind nicht weniger mächtig, nicht weniger religiös, im Gegenteil, wir sind, wie das Ohel Moed, die Stiftshütte, ein mobiler Tempel. wir wissen, dass das, was ganz sein will, was ganz bleiben will, in Stücke gebrochen werden muss. Unsere Fähigkeit, auseinanderzufallen, verspricht, dass wir weitergehen werden können.

Schabbat Schalom

 Freitag, den 10. Juni 2022: Paraschat Nasso, Göttingen, 11/12 Sivan 5782 — Avigail Ben Dor Niv

Wenn wir etwas berühren, das ganz ist, wie eine schöne Blume, ein Gedicht, ein Gemälde, haben wir immer das Gefühl, dass nichts verändert werden kann, dass alles an seinem Platz ist. Wir denken selten daran, es in seine Einzelteile zu zerlegen und neu zusammenzusetzen. Wenn wir eine wahrhaft vollständige Tradition suchen, suchen wir oft etwas, das perfekt von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

Im Toraabschnitt dieser Woche, Paraschat Nasso, wird die Stiftshütte, der Mischkan, eingeweiht und geheiligt. Dies steht am Ende der Parascha, davor wird etwas ganz anderes ausführlich beschrieben - die Zerlegung des Mischkan in Teile. Er nimmt die detaillierte, komplexe Architektur der Stiftshütte, die in mehr als 14 Paraschot beschrieben wird, mit ihren vielen Teilen, teuren Werkzeugen und ihrem perfekten Design - nur um sie dann wieder in Stücke zu brechen.

Das Wort "Nasso" bedeutet "tragen", und der Abbau der Stiftshütte muss erfolgen, um die ganze perfekte Stiftshütte durch die Wüste Sinai zu tragen, während die Israliten sich auf den Weg in das gelobte Land machen. Es handelt sich, wie immer in den 5 Büchern Mose, um einen mobilen Tempel für mobile Menschen. Er ist noch nicht, wie der spätere Tempel, an einem glanzvollen Ort errichtet. Deshalb beinhaltet er auch eine andere Vorstellung von Gott, der uns nahe ist, von uns getragen wird - ein Teil von uns ist.

Wenn ich über diesen wichtigen Teil unserer Religion, das Tragen Gottes, nachdenke, denke ich sofort an dieses Verbs, tragen, NAS, was im biblischen Hebräisch bedeutet - vergeben. Abraham fragt Gott vor Sdom und Amora: "Wirst du ihnen nicht vergeben, wenn es 50 Gerechte unter ihnen gibt?", Er fragt tatsächlich: "Wirst du sie nicht tragen? (1.Mose 18:24). Die Brüder von Josef bitten ihn: "Ach vergib doch die Abtrünnigkeit deiner Brüder", aber das Hebräische sagt: "Bitte trage unsere Last" (1.Mose 50:17)

Dies ist ein sehr schönes Verständnis der Bibel in Bezug auf Vergebung. Vergebung bedeutet nicht, eine schlechte Tat, die uns angetan wurde, zu vergessen oder zu verdrängen. Biblische Vergebung ist immer ein Tragen. z.B.s, Wenn ein Freund uns unrecht getan hat, und wir wollen ihn vergeben, d. h. das wir tragen sollen das Wissen um das begangene Unrecht während der gesamten Dauer der Beziehung. Kain sagt, nachdem er seinen Bruder Hevel getötet hat: "Meine Schuld ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte" (1.Mose 4:13). Da Kain niemanden hat, den er um Vergebung bitten kann, bleibt er mit seiner Schuld allein.

Der französisch-jüdische Philosoph Jacques Derrida sagt, dass wir das Verb "vergeben" oft mit dem Verb "vergessen" gleichsetzen, aber das seien zwei verschiedene Dinge. Vergebung ist nicht für die alltäglichen Taten nötig, sondern nur für die schwerwiegenden Dinge, die uns angetan wurden. Wir werden die kleinen Dinge sowieso vergessen und weitergehen, aber die wirklich wichtigen Dinge, wieVertrauensbruch, sind die Dinge, die Vergebung erfordern, und sind die Dinge, die in ihrem Kern nicht vergeben werden können, deshalb sagt er: "Vergebung ist nur für das erforderlich, was nicht vergeben werden kann". Dieses Vergeben im Sinne Derridas ist gleich mit dem biblischen Begriff des "Tragens".

Und was ist die Verbindung zwischen den beiden Bedeutungen des Tragens, der Vergebung und des abgebauten Tempels?

Vielleicht hat Vergebung mit unserer eigenen Fähigkeit zu tun, abzubauen und wieder aufzubauen, vielleicht ist es das, was wir vergeben, was wir tragen, das uns verspricht, dass wir weitergehen werden, flexibel, in Teilen, aber ganz.

Die Stiftshütte mit ihrer perfekten göttlichen Architektur ist neben ihrer Heiligkeit, ihrer Ganzheit, ein modularer Tempel, ein tragbarer Tempel. Er ist noch nicht der versteinerte Tempel in Jerusalem, ein Tempel, der am Ende zweimal zerstört wurde. Denn Steine und Mauern werden zerstört. Aber das Ganze kann nur ganz bleiben, wenn es flexibel ist, wenn es fragmentiert ist.

Für die Weisen, die nach der Zerstörung des zweiten Tempels schrieben, wurde Gott wieder demontiert, d.h. neu zusammengesetzt. Was wir Zerstörung nennen, war für sie eine Chance, eine ganze Gottheit zusammenzusetzen, die nicht wieder zerstört werden kann - weil sie in uns getragen wird. Für sie war die Zerstörung ein Aufbau, ein Wiederaufbau eines unzerbrechlichen Glaubens.

Dies ist das gleiche Judentum, das wir heute in uns tragen. Es ist keine vollständige und vollkommene Tradition, aber wir tragen gebrochene Traditionen in uns, zerschnitten und wieder zusammengesetzt, ausgelöscht und wieder zusammengefügt. Das soll nicht heißen, dass wir etwas falsch machen, aber wir gehen weiter, wir müssen Gott mit uns tragen, in seiner zerlegten Form.

Wir wissen, dass der Mensch flexibel und beweglich ist, wir wissen, dass wir mehr als einmal zerlegt wurden und dass wir wiederaufgebaut werden. Wir sind komplex und wir tragen viel - wir tragen unsere Selichot, unsere Vergebungen und vielleicht werden wir noch mehr tragen. Wir tragen unsere Vergangenheit, Traditionen, die wir bekommen haben, Traditionen, die wir verloren haben, Traditionen, die wir erfunden haben... und dennoch - wir sind nicht weniger mächtig, nicht weniger religiös, im Gegenteil, wir sind, wie das Ohel Moed, die Stiftshütte, ein mobiler Tempel. wir wissen, dass das, was ganz sein will, was ganz bleiben will, in Stücke gebrochen werden muss. Unsere Fähigkeit, auseinanderzufallen, verspricht, dass wir weitergehen werden können.

 Donnerstag, den 9. November 2023: Preisgekrönte Drascha für den 9.Nov.2023 (26.Cheschwan.5784) — Rabbinerin Jasmin Andriani

Nach dem 7. Oktober ringen angesichts der Situation in Israel und Palästina viele Menschen um die richtigen Worte. Auch Predigende suchen nach einer angemessenen Sprache. In Kooperation mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat die AG jüdisch und christlich beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in diesem Jahr zum ersten Mal einen Predigtpreis im christlich-jüdischen Kontext ausgeschrieben. Vier der eingesandten Predigten werden nun ausgezeichnet. (Homepage der Evangelischen Akademie zu Berlin)

Jasmin Andriani

Für die folgende Drascha hat unsere Gemeinderabbinerin Jasmin Andriani am 20.10.24 einen der Preise erhalten:

Drasha Wajera Thomaskirche Leipzig 9.11.23

Liebe Gemeinde,

ich danke Ihnen für die Einladung. Ich spreche zu Ihnen als Jüdin über den 9. November 1938, der Tag, der das deutsch-jüdische Band zerriss und der Anfang der Vernichtung des europäischen Judentums darstellt.

Ich möchte Sie gerne an meiner ganz persönlichen Geschichte teilhaben lassen.

Meine Großmutter Margot Ebstein ist 1918 geboren und in Breslau aufgewachsen. Sie hat ihre Kindheit und Jugend in Deutschland beschrieben. Gerne möchte ich Ihnen einige Stellen aus ihrem Text vorlesen die von den Ereignissen rund um die Reichspogromnacht 1938 handeln. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits die Schule verlassen müssen, durfte nicht studieren und arbeitete zum Broterwerb in der Praxis eines jüdischen Arztes.

Auch an jenem bitteren 10.November 1938 früh um 9 Uhr ging ich in meinen Dienst. Auf dem Weg zu ihm rief mir ein jüdischer älterer Herr zu:

Die große Synagoge brennt und die Schaufenster aller jüdischen Geschäfte werden eingeschlagen.“ Ich stürzte zu dem Praxishaus. Von weitem sah ich schon die eingeschlagenen Fensterscheiben. Der Hauseingang war mit Glassplittern besät. Daneben stand ein Polizist mit Sturmriemen. Oben riss ich zuerst an der Klingel, aber niemand öffnete.

Zum Glück hatte ich einen Schlüssel bei mir. Ich schloss auf. Niemand war in der Wohnung. Ich rannte zu dem Zigarrenhändler, dessen Wohnung sich neben der unsrigen befand. Seine alte Frau öffnete mir und sagte weinend, dass ihr Mann, der doch schon über 80 Jahre alt war und auch mein Chef vor etwa 10 Minuten von 2 Gestapoleuten fortgeführt worden sei.

Ich stand einen Augenblick starr. Dann begann mein Gehirn wieder zu arbeiten.

Nun versucht meine Großmutter ihren Chef, den Arzt Dr. Fritz Littauer, zu retten. Die einzige Möglichkeit bestand darin, die notwendigen Papiere für eine Flucht ins Ausland zu organisieren. Sie erzählt weiter:

Vor meinem Taxi fuhren in langen Ketten die Lastwagen, in denen die eben verhafteten Juden saßen. Sie sollten scheinbar ins Polizeipräsidium geschafft werden. Wie dort die vielen tausend Menschen untergebracht werden sollten, war mir nicht ganz klar. Später hörte ich, dass sie in den großen Höfen dieser Gebäude zusammengedrängt bis zum Abend stehen mussten, bevor sie nach den Konzentrationslagern abtransportiert wurden.

Nur einige Ladenmädchen oder ältere Schulkinder standen neugierig auf der Straße und lachten manchmal schadenfroh. Immerfort hörte ich die schrillen Hupen der rasch fahrenden Polizeiwagen. Der ganze Verkehr stand dadurch in der Stadt still und mein Auto musste öfters halten. Wir fuhren an der brennenden Synagoge vorbei. Die große Kuppel, ein Wahrzeichen unserer Stadt, rauchte und stand schon schief. Ab und zu hörte man große Detonationen, die von den Sprengungen herrührten, die die Feuerwehr vornahm, um ein schnelleres Ende der Synagoge herbeizuführen. Aber die schweren Quadern der Mauer wankten nicht und nach langer Zeit erst wurde die Breslauer Bevölkerung von dem peinlichen Anblick des abgebrannten Gotteshauses befreit.

 

Nach etwa 14 Tagen kamen die ersten Karten von „Schutzhäftlingen“ aus dem Konzentrationslager in Buchenwald bei bekannten Familien an. Buchenwald war als das schlimmste aller Lager bekannt. Und von meinem Chef kam keine Nachricht. Ich wusste nicht, ob ich mich für einen Lebenden oder einen Toten bemühe. Täglich hörte man, dass diese oder jene Familie die Asche eines Toten zugestellt bekommen hatte. Die Urnen wurden als Nachnahmesendung behandelt, das heißt der Betrag von 3.75 Mk. wurde von der Post dafür genommen.

Vierzehn Tage nach der Verhaftung, also gleichzeitig mit den ersten Nachrichten, die in Breslau aus Buchenwald einliefen, bekam ich aus Berlin die Nachricht, dass das Zertifikat für Palästina beschafft sei. Ich telefonierte sofort nach Berlin, aber von dort bekam ich die niederschmetternde Nachricht, dass das Anwaltsbüro inzwischen polizeilich geschlossen worden war.

Also mußte meine Großmutter persönlich nach Berlin fahren.

Auf die Straße gekommen, sah ich überall eingeschlagene jüdische Geschäfte, die ja gerade auf dem Kurfürstendamm, wo ich zu tun hatte, sehr zahlreich waren. Ich hatte schrecklichen Hunger, aber wo sollte ich essen? Die jüdischen Restaurants waren geschlossen und die arischen für Juden verboten. Nun musste ich für eine Unterkunft für die nächste Nacht sorgen.

Dem 20-jährigen Mädchen gelang es tatsächlich, die Dokumente zur Ausreise zu beschaffen und ihren Chef zu retten. Im April 1939 verließ auch sie Deutschland in Richtung Palästina.

 

Als ich über die Alpen fuhr, stand ein arischer Herr, der einen sehr vornehmen Eindruck machte, neben mir am Fenster. Er erklärte mir die Landschaft und fragte mich dann, wohin ich fahre. Ich sagte: „nach Palästina“ und glaubte schon, jetzt würde er nicht mehr mit mir weiter sprechen. Aber er meinte, das habe er sich schon gedacht. Zum Schluss dankte ich ihm für seine Erklärungen und sagte, ich hätte mich so gefreut, genauso über die Gegend zu fahren, weil ich doch heute die Alpen zum ersten und zum letzten Mal in meinem Leben sehen würde. Er antwortete: „Ich garantiere Ihnen, n i c h t zum letzten Mal!“

Es war das letzte Mal. Meine Großmutter verstarb 1960 in Jerusalem. Nie wieder sah sie die Alpen, Deutschland oder ihre Familie wieder. Ihre Mutter wurde von Breslau aus deportiert und 1943 in Theresienstadt ermordet.

Wie konnte das alles geschehen? Wie konnten Menschen aus unserer Mitte herausgerissen werden und plötzlich gehörten sie nicht mehr dazu? Wie konnte sich über Jahre hinweg ein Regime etablieren, das auf Unrecht und Angst fußte? Wie konnte diese Entwicklung zu der Ermordung von 6 Millionen Juden in Europa führen, davon eineinhalb Millionen Kinder?

Ich kann es einfach nicht erklären! Egal wie viele Bücher ich lese.

 

Ein Blick in die Tora erklärt nicht den deutschen Nationalsozialismus, aber die Tora beschreibt etwas, das vor 3000 Jahren, vor 85 Jahren und heute das Geschehen bestimmt: Den Menschen. Wie verhält er sich in schwierigen Situationen, in Krisen und Katastrophen? Was ist ihm wichtig? Gelingt es ihm, sich moralisch zu verhalten, oder wird er korrumpiert durch Verlockungen oder Angst? Welche Wahl trifft er mit seinem freien Willen?

In den jüdischen Gemeinden weltweit lasen wir diesen Shabbat den Wochenabschnitt „Wajera“ aus dem Buch Bereschit, Genesis. Auch hier begegnen uns Tod und Zerstörung. G´tt hat vor, die beiden Städte Sodom und Gomorrha zu vernichten. Allerdings folgt auf den Entschluss nicht unmittelbar die Umsetzung. G`tt zögert kurz und die Bibel überliefert uns sehr bemerkenswert sein g´ttliches Selbstgespräch in dem Er mit sich selbst hadert: „Soll ich verbergen vor Awraham was ich tue? Und Awraham wird doch werden zu einem großen und mächtigen Volke und in ihm werden gesegnet alle Völker der Erde. Denn ich erkannte ihn, weil er befehlen wird seinen Söhnen und seinem Hause nach ihm, dass sie halten den Weg des Ewigen, zu tun Gerechtigkeit und Recht.“

 

וַֽיהוָֹ֖ה אָמָ֑ר הַֽמְכַסֶּ֤ה אֲנִי֙ מֵֽאַבְרָהָ֔ם אֲשֶׁ֖ר אֲנִ֥י עֹשֶֽׂה׃‏ וְאַ֨בְרָהָ֔ם הָי֧וֹ יִֽהְיֶ֛ה לְג֥וֹי גָּד֖וֹל וְעָצ֑וּם וְנִ֨בְרְכוּ ב֔וֹ כֹּ֖ל גּוֹיֵ֥י הָאָֽרֶץ׃ כִּ֣י יְדַעְתִּ֗יו לְמַעַן֩ אֲשֶׁ֨ר יְצַוֶּ֜ה אֶת־בָּנָ֤יו וְאֶת־בֵּיתוֹ֙ אַחֲרָ֔יו וְשָֽׁמְרוּ֙ דֶּ֣רֶךְ יְהוָ֔ה לַעֲשׂ֥וֹת צְדָקָ֖ה וּמִשְׁפָּ֑ט

(Gen 18, 17-19)

Was geschieht hier? G´tt weilte viereinhalb Milliarden Jahre alleine auf dieser Welt. Er erschuf und ließ verderben, wie es ihm gefiel. Doch plötzlich tritt der Mensch in sein Leben. Ihn hatte G´tt in seinem eigenen Abbild, beZelem Elohim erschaffen. Und zusätzlich zu den Gefühlen und Instinkten anderer Lebewesen, die vorher existierten, erhielt der Mensch noch etwas anderes: den Unterschied zwischen Gut und Böse zu erkennen. Und nicht nur als Zuschauer die Welt nach gut und böse zu bewerten, konnte der Mensch, sondern sein Handeln nach dieser Einteilung selbst lenken.

Und nun steht da dieser Mensch Abraham. G´tt ist mit ihm einen Bund eingegangen: Abraham solle sich an Recht und Gerechtigkeit halten und G´tt würde ihm als Gegenleistung viele Nachkommen und ein verheißenes Land schenken.

Das g´ttliche Selbstgespräch macht deutlich, dass es G´tt bewusst wird, dass er jetzt einen Partner im Weltgeschehen, einen Schutaf be´Boro, hat. Jemand der mitentscheidet, wie es mit diesem Planeten weiter geht.

Und weil Abraham Gerechtigkeit und Empathie als seine Handlungsmaxime hat, beginnt er mit G´tt um das Leben der Menschen in Sdom zu ringen. Er gibt zu bedenken, dass bei einer Vernichtung der gesamten Stadt auch die Unschuldigen mit den Frevlern stürben. Was wäre, wenn es 50 Zadikim, 50 Gerechte in der Stadt gäbe? Fragt er. G´tt sagte: „Gut, dann würde ich allen vergeben um der Gerechten willen.“ Und bei 40? Auch dann. Und bei 30? Usw, bis G´tt damit einverstanden ist, die Städte zu verschonen, wenn es auch nur 10 gute Menschen in ihnen gäbe.

So mutig erlaubt sich Abraham seine Stimme zu erheben und gegen Ungerechtigkeit einzutreten gegenüber einem so mächtigen Gesprächspartner. Weil er nicht anders kann. Weil sonst seine ganze Existenz auf dieser Erde keine Bedeutung hätte.

Wir wissen, wie die Geschichte weiterging: Die Gerechten konnten nicht gefunden werden und G´tt vernichtete Sodom und Gomorrha mit Feuer- und Schwefelregen. Lot, der Neffe Abrahams, und dessen Familie wurden aus der Stadt geführt. Gegen G´ttes Anweisung drehte sich Lots Frau um und wurde im Angesicht des Infernos zur Salzsäule versteinert.So ist sie gleichermaßen unlebendig und überdauert dennoch die Zeit. Für Generationen als Erinnerung an diese Geschichte.

Wie versteinert schauten wohl auch viele Menschen in diesem Land vor 85 Jahren auf die Ereignisse, die sich um sie herum entwickelten.

Wir wissen, wie schwer es war in Nazi-Deutschland die Stimme gegen Ungerechtigkeit zu erheben. Wir kennen einzelne Beispiele von erfolglos versuchtem Widerstand. Fakt ist, dass das Terror-Regime, das Deutschland 12 Jahre lang beherrschte nicht von Innen gestürzt wurde, sondern zusammenbrach, weil die Alliierten den Krieg gewannen. Breslau wurde 1945 fast komplett zerstört, heißt heute Wroclaw und liegt in Polen.

In den letzten Wochen lernte auch ich das Gefühl der Versteinerung kennen. Auch ich wurde zu Lots Frau. Die Katastrophe des 7. Oktobers, die Ermordung von 1400 Menschen in Israel,die Verschleppung von über 240 Menschen in den Gazastreifen, die Verletzungen an Körper und Seele von Abertausenden, sie überwältigt mich. Der Sadismus des durchdringt mich.

Ich muss an den Jungen denken, dessen Fuß abgehackt wurde und so verblutend starb. Ich muss an das vierjährige Mädchen denken, deren beide Eltern ermordet wurden und die sich nun als Geisel in irgendeinem Tunnel der Terroristen befindet. Wer sorgt sich um sie? Wer wird ihre Wunden heilen, sollte sie überleben? Ich muss an Shani Louk, die 22jährige Deutsch-Israelin denken, von der letzte Woche Teile des zertrümmerten Schädels identifiziert werden konnten. Ich muss nicht nur an sie denken. Das ist der falsche Ausdruck. Das Grauen zieht meinen Geist an. Ich träume von ihm. Es überwältigt mich. Ich erstarre zu Stein.

Ich bin Lots Frau.

Nein! Ich bin nicht Lots Frau! Im Gegensatz zu ihr habe ich einen Namen. Ich stamme nicht aus Sdom, einem Ort, an dem das Unrecht die Macht hat. Und ich kenne im Gegensatz zu ihr ihre Geschichte.

Aber wie soll ich weitermachen? Wie kann ich mich aus einer Steinsäule wieder in einen Menschen aus Fleisch und Blut verwandeln?

 


 

Wie gelingt es uns, nicht wie versteinert auf die Ereignisse unserer Zeit damals und heute zu blicken? Nicht regungslos und schweigend nur zuzuschauen?

Ich frage mich heute, was hätte beispielsweise die Nachbarin meiner Großmutter damals ganz konkret machen können?

Ein Mensch sein. Den anderen ebenfalls als Menschen betrachten.

Wir kennen in unserem Herzen sehr gut den Unterschied zwischen Gut und Böse. Und ignorieren wir dieses Gefühl, ist unsere gesamte Existenz vergebens. G´tt war bereit, eine ganze Stadt des Unrechts zu verschonen, wenn es nur 10 Menschen in ihr gäbe, die nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit streben. Warum eigentlich? Ist das nicht auch wieder ungerecht, die Sünder zu verschonen? Ich denke, das macht nur Sinn, wenn man sich vor Augen führt, dass eine kleine Gruppe Aufrichtiger in der Lage ist, eine ganze Gesellschaft vom Richtigen zu überzeugen. Wandel und Einsicht herbeizuführen.

Jeder Mensch hat eine Stimme und nur eine Stimme. Jeder Mensch hat eine individuelle Stimme, mit der nur er oder sie Dinge auf eine bestimmte Art und Weise ausdrücken kann, und niemand außer ihm. Niemand kann statt ihm sprechen, nur mit ihm gemeinsam. Wir können unser Leben verstreichen lassen, ohne unsere Stimme je benutzt zu haben.

Wir können immer wegschauen und uns nur um unsere persönlichen Belange kümmern. Oder wir nutzen unsere einzige Chance, die wir auf dieser Welt haben und versuchen, für das einzustehen, was wir als richtig erachten und setzen uns ein für Menschlichkeit und Respekt.

Liebe Gemeinde, eine Steinsäule lebt nicht.

Ich will leben.

Ich will hier leben.

Schalom.

 


 

 Freitag, den 8. Dezember 2023: Drasha Wajeschew — Rabbinerin Jasmin Andriani

Liebe Gemeinde,

Wajeschew Jaakov beEretz megurej Awiw beEretz Knaan“ Jakov ließ sich nieder in dem Land, wo sein Vater sich aufgehalten hatte, nämlich im Land Kna´an“ (Gen 37,1).

Es scheint, als sei Ruhe in die turbulente Geschichte dieses Mannes eingekehrt, der betrog und floh, liebte und litt, Frieden mit seinem Bruder schloss und 13 Kinder mit 4 Frauen zeugte. Ein wahrlich bewegtes Leben!

Eins seiner Kinder, Josef, den Sohn von Rachel, liebte Jakov ganz besonders. Wenig pädagogisch machte er aus seiner Bevorzugung des Zweitjüngsten gegenüber seinen älteren Brüdern keinen Hehl. Im Gegenteil: er schenkte Josef ein wunderschönes buntes Gewandt, so dass des Vaters Gunst nun auch augenscheinlich war. Und er wurde gesehen. „Wajiru Echaw ki oto ahaw Awihem mikol Echaw wajissnu oto we lo jachlu dabro leSchalom“ „Als die Brüder sahen, dass ihr Vater ihn mehr liebte als alle seine Brüder, hassten sie ihn und konnten nicht freundlich mit ihm sprechen.“ (37, 4)

Josef wiederum streute noch mehr Salz in die Wunde: er träumte, er und seine Brüder seien Weizengarben auf dem Felde und die Garben der Brüder verbeugten sich vor seiner Garbe. Er erzählte seinen Traum den Brüdern, die dies sehr erboste: „Denkst du etwa, uns als König zu regieren oder uns zu beherrschen?“ Aber Josef erzählte ganz unbeeindruckt auch seinen zweiten Traum: Die gesamte Familie waren Himmelsgestirne und alle verbeugten sich wiederum vor Josef.

Die Wut der Brüder war groß. Eines Tages, als sie das Vieh des Vaters weit weg von zu Hause hüteten, kam Josef über die Felder zu ihnen. Als sie ihn von Weitem sahen, unbedarft mit seinem leuchtenden Mantel, loderte der Hass in ihnen auf und man wollte ihn zu töten. Re´uwen schritt ein und sagte: „Vergießt kein Blut! Werft ihn lieber in diese Grube, die in der Wüste ist, legt aber keine Hand an ihn.“

Sein Blut vergossen sie zwar nicht, aber Hand legten sie sehr wohl an ihn: Sie zogen ihm sein buntes Gewandt aus und warfen ihn in die Grube. והבור רק אין בו מים „Und die Grube war leer, und kein Wasser war darinnen.“ Sagt die Torah. (37, 24)

Viele Torahgelehrte stolperten über diese Stelle: Das war doch irgendwie doppelt gemoppelt: sie war leer und kein Wasser war darinnen. Ein wichtiges Prinzip der Torahexegese ist aber, dass nichts, kein Buchstabe in der Heiligen Schrift überflüssig ist.

Bereits der Talmud fragt, wozu diese Wiederholung dient. In Massechet Schabbat 22a erklärt Raw Tanchum: „Diese Doppelung bedeutet, dass es kein Wasser in der Grube gab, wohl aber Schlangen und Skorpione!“ Josef war in der Grube nicht nur alleine, von seinen Brüdern misshandelt, isoliert, sondern sogar sein Leben war bedroht. Der Ramban sagt, die Brüder wollten ihn nicht verletzen und hätten ihn nicht in einen vollen Brunnen geworfen, damit er ertrinken würde. Die Skorpione allerdings sahen sie auch nicht. Sonst hätten sie gewusst, dass es an ein Wunder grenzte, dass er überlebte.

Dieses Wunder wird wiederum mit Psalm 97 begründet אוֹר זָרֻעַ לַצַּדִּיק, וּלְיִשְׁרֵי-לֵב שִׂמְחָה

Licht ist gesät dem Gerechten und Freude dem Redlichen.“

Diesen Psalm kennen wir von Kabbalat Schabbat und auch von Jom Kippur. In der dunklen Grube leuchtete dem Josef ein Licht, weil er ein Zadik war, und so wurden alle Gefahren vertrieben.

Der Midrasch von Rabbi Tanchum im Talmud über Josefs leere Grube befindet sich nicht an einer Stelle, wo die Geschichte Josefs ausführlich analysiert wird, sondern in einer Diskussion über Chanukah.

Kurz zuvor macht Raw Tanchum eine andere Aussage zu Chanukah:

נֵר שֶׁל חֲנוּכָּה שֶׁהִנִּיחָה לְמַעְלָה מֵעֶשְׂרִים אַמָּה — פְּסוּלָה

Stellt man das Licht von Chanukah höher als 20 Ellen auf, so ist es ungültig.“ Der Hintergrund ist hier, dass es eine Mizwah ist, die Chanukiah aufzustellen, um allen vom Wunder von Chanukah per Symbol zu erzählen.

Wo liegt der Zusammenhang zwischen Josef in der Grube und dass man den Chanukahleuchter nicht höher als 20 Ellen, etwa 10 Meter, aufstellen darf?

Rabbi Baruch HaLevi Epstein, ein Torahkommentator der 1860 in Novogrudok im heutigen Belarus geboren wurde, lehrt in seiner Torah Temimah, der Zusammenhang zwischen den beiden Stellen ist folgender: Josefs Grube war tiefer als 20 Ellen. So konnten seine Brüder nicht sehen, dass sie mit Schlangen gefüllt war. Deshalb wunderten sie sich auch nicht über sein Überleben, als sie ihn wieder hinauszogen. Eine Chanukiah, die höher als 20 Ellen aufgestellt wird, sieht man auch nicht. Es geht hier also um die Möglichkeit, etwas zu sehen.

Ich habe allerdings noch eine andere Frage an den Torahtext: Warum landet Josef überhaupt in der Grube?

Es wird berichtet, dass die Brüder ihn hineinwarfen und sich zum Essen setzten. Da kam eine Karawane vorbei, die nach Ägypten zog. Schnell entwickelte man einen neuen Plan: Wenn man Josef als Sklaven an die Kaufleute verkaufen würde, wäre man ihn los und hätte noch etwas dran verdient! Also holten sie ihn wieder herauf, verkauften ihn für 20 Silberstücke, die Karawane brachte ihn nach Ägypten, wo er bei Potifar landete.

Also, warum wird überhaupt die Episode von der Grube erzählt? Die Geschichte hätte erzählen können, erst wollten sie ihn töten, dann verkauften sie ihn lieber. Warum muss Josef zwischenzeitlich im Bor, in der Grube landen?

Die Grube hat im wahrsten Sinne des Wortes eine tiefe Bedeutung. Sie ist auch als Motiv in der Literatur wiederholt herangezogen. Von einem Beispiel will ich euch kurz erzählen:

Der japanische Autor Haruki Murakami erzählt in seinen „Chroniken des Aufziehvogels“ von einem Mann, der ebenfalls in eine Grube gerät, aus der er sich nicht selbst befreien kann. Er verbringt lange Zeit in dem Loch. Im Dunkeln, allein mit seinen Gedanken und seiner Hoffnungslosigkeit. Irgendwann wird er tatsächlich gerettet und kommt wieder in die Außenwelt. Er versucht sein Leben zu leben, aber die Grube trägt er tagtäglich mit sich herum. Am Ende entscheidet sich der Protagonist wieder in die Grube zurückzukehren, um dort zu sterben.

Die Grube ist sein Trauma, er ist bereits halb gestorben, als er in ihr saß. Tatsächlich ähnelt die Grube einem Grab. Man ist lebendig begraben. Ein schicksalhafter Moment, ein Moment, in dem sich der Verunglückte merkt, dass sein Leben begrenzt ist. Er fragt: Wer bin ich eigentlich? Was mache ich auf dieser Welt und was ist mir wichtig?

Unsere Geschichte mit Josef geht glücklicherweise wesentlich hoffnungsspendender weiter als bei Murakami. Schlussendlich wird Josef Vizepharao des mächtigen ägyptischen Reiches und kann so seine gesamte Familie vor der Hungersnot retten. Aber noch einmal wird er auf seinem Weg in eine Grube geworfen: ins Gefängnis, wo er die Träume des Mundschenks und des Bäckers richtig deutet. Ich bin überzeugt: für Josefs Leben waren die Erfahrungen in der Grube elementar: der Moment, in dem er nicht mehr tiefer sinken kann, einen halben Tod gestorben, zwingt ihn dazu, aus sich selbst Kraft zu schöpfen. Das Leben schätzen zu wissen. Josef zieht hieraus eine unglaubliche innere Stärke. Or sarua laZadik – ein Licht schien ihm.

Vielleicht erscheint auch vielen von uns diese Zeit der Gewalt in Israel, der traurigen Nachrichten und der Bedrohung hier wie eine dunkle Grube. Wir wurden in ein Loch geworfen. Wie kommen wir hier wieder raus?

Als wären wir alle Zadikim, leuchtet ein Licht in unserer Dunkelheit. Der mutspendende Feiertag Chanukah ist endlich gekommen, der uns erzählt, wie die Juden sich selbst aus einer anderen dunklen Zeit befreiten. Mit Mut und G´ttes Hilfe.

Einige fühlen sich erschöpft. Alles erscheint zuviel um uns herum. Es ist nun aber die Zeit, das Licht in uns selber wieder zu suchen und zum Leuchten zu bringen. Feuer verbreitet sich und wir unterstützen unsere Mitmenschen mit unserem Feuer.

Wir müssen nach einander sehen, denn Jemand der sich nicht gesehen fühlt, sitzt in einer dunklen Grube. Gemeinsam werden wir auch diese Zeit überwinden.

Möge das Licht von Chanukah uns Hoffnung und Mut spenden!

Schabbat schalom!