Drascha für die hohen Feiertage 5781 — Rabbiner drs Edward van Voolen, Abraham Geiger Kolleg an der Universität Potsdam
Schana towa! Wir feiern unsere Feiertage Rosch Haschana (Neujahr) und Jom Kippur (Versöhnungstag) in diesem Jahr wegen der Corona—Pandemie anders als in anderen Jahren. Die Botschaft ist aber um so stärker. Wir brauchen einander mit einer noch größeren Liebe als je zuvor. Und die Welt braucht noch mehr Zuwendung von uns Menschen als je zuvor. Liebe, Zuwendung, Achtsamkeit — darum dreht es sich an den Hohen Feiertagen.
Zur Vorbereitung diente der vorige Monat, Elul— geschrieben mit diesen Buchstaben: alef- lamed-wav-lamed. Es sind die gleichen vier Buchstaben, mit denen diese Worte anfangen: Ani ledodi, vedodi li „Ich gehöre meinem Geliebten, und mein Geliebter gehört mir." Worte aus Schir haSchirim, dem Hohelied (6:3), Worte, die die Braut zu ihrem Bräutigam sagt, oder zwei Menschen einander unter der Chuppa sagen, während sie einander einen Ring auf den Finger schieben. So wie ein Ehepaar sich mit diesen vier Worten, die mit den Buchstaben alef-lamed-wav-Iamed anfangen, miteinander verbindet, so hat der Monat Elul uns ermuntert und aufgerufen, uns miteinander zu verbinden, uns näher zueinander und vielleicht sogar näher zu G'tt zu bringen.
Wegen der Corona-Pandemie können wir die Feiertage nicht wie üblich gemeinsam in der Synagoge feiern. Und genau darum, weil es schwieriger ist, an diesen wichtigen Tagen unseres jüdischen Jahres zusammenzukommen, ist Verbindung und Nähe zueinander die wichtigste Herausforderung für alle Jüdinnen und Juden, für uns alle.
Liebe ist die zentrale Aufgabe, die zentrale Botschaft der Tora, des Judentums insgesamt. Liebe deinen Nächsten ist das zentrale Gebot der Tora, diese Worte stehen nicht umsonst genau in der Mitte der fünf Bücher Mose (Leviticus 19,18). Und wieso genau steht das Liebesgebot in der Mitte? Weil wir nach
Sind wir in der Lage, einander Zuneigung zu geben? Ja, sagt der Philosoph und Rechtsgelehrte Maimonides (Rambam): Jede Person hat einen freien Willen. Wir bestimmen, ob wir den richtigen Weg wählen und gerecht handeln wollen; das liegt in unserer Macht, wir entscheiden freiwillig, was wir tun und lassen. Und auch wenn wir in die falsche Richtung gehen, liegt das in unserer Macht. Jeder und jede kann so gerecht und rechtschaffen sein wie Mosché Rabbénu oder ungerecht wie König Jerobeam (Rambam, Mischne Tora, Hilchot Teschuwa 5,1—2). Jede und jeder entscheidet, ob sie oder er barmherzig oder grausam, gemein oder großzügig sein möchte.
In den letzten Monaten wurden wir oft auf die Probe gestellt. Die Corona-Pandemie hat uns vor viele Entscheidungen gestellt. Entscheiden wir uns, ob wir uns an die Regeln halten wollen oder nicht? Gefährden wir anderen und unsere eigene Gesundheit? Oder versuchen wir, das zu vermeiden? Helfen wir anderen, die sich nicht helfen können, oder schauen wir weg und kümmern uns nur um uns selbst?
Niemand zwingt uns oder entscheidet für uns oder zieht uns in die eine oder andere Richtung; wir selbst haben die Freiheit, die Seite zu wählen, die wir wollen, sagt Maimonides. Dazu ermutigt uns auch die Tora: „Vor euch liegt die Wahl zwischen dem Segen und dem Fluch: Wählt den Segen.” (Deuteronomium 30)
Die zehn Tage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur sind Tage der Einkehr. Als Juden überprüfen wir weltweit unsere Taten des vergangenen Jahres. Ungerechtigkeiten zwischen Mitmenschen können wir nur durch Entschuldigungen wiedergutmachen. In der Mischna, einem frühen rabbinischen kanonischen Text, wird erklärt, dass man sich bis zu dreimal entschuldigen muss, bis sie angenommen werden, gegebenenfalls sogar mit Geschenken. Wenn die beleidigte Person in der Zwischenzeit gestorben ist, wird an der Grabstelle eine Entschuldigung ausgesprochen. Es scheint, dass die Wiedergutmachung sowohl für den Täter als auch für die betroffene Person etwas Notwendiges ist.
Während der Synagogen
Die Notwendigkeit einer kollektiven Entschuldigung ist heute gesellschaftlich ein präsentes und lebhaft diskutiertes Thema: für den Holocaust, für die Rolle, die wir in der Kolonialzeit gespielt haben, für die Sklaverei und für Rassismus in unserer heutigen Gesellschaft. Man muss aber diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht persönlich begangen haben, um zu erkennen, dass Entschuldigungen notwendig sind: sowohl durch die Täter als auch für die Erniedrigten und Beleidigten. Nur dann ist ein Neuanfang möglich.
Maimonides sagt, dass man erst dann wirklich Teschuwa gemacht hat, wenn man wieder in die gleiche Situation gerät und dann das Richtige tut (Rambam, ibid 2,1). Jedes Mal werden wir im Leben erneut getestet: Was wählen wir? Wählen wir Liebe, Zuwendung, Achtsamkeit? Ani Iedodi, vedodi Ii / Ich gehöre Dir, so wie Du mir gehörst. Lasst uns füreinander da sein. Schana towa, möget ihr eingetragen werden ins Buch des Lebens.
Rabbiner Edward van Voolen