„Judentum ist keine Identität“
Erzählcafé in Osterode, 8. August 2022
Das „Erzählcafé“ im Museum im Ritterhaus befasst sich mit jüdischem Leben damals und heuteUnterstützung durch:
Osterode „Shalom – jüdisches Leben damals und heute“ war Thema des Erzählcafés, das im Innenhof des Osteroder Museums an einem heißen Sommerabend einen idealen Veranstaltungsort gefunden hatte.
Gerade im Kampf gegen Antisemitismus sei das Anliegen der Reihe „Lebensgeschichten weitergeben“ besonders wichtig, betonte Moderatorin Brigitte Maniatis. Als Zeitzeugin berichtete Dr. Katja Langenbach aus Göttingen von ihren Lebenserfahrungen. Aufgewachsen ist sie in Hamburg, wo der Vater eine Zahnarztpraxis hatte. Obgleich ihre Mutter 33 Jahre jünger war, sei es eine ausgesprochen glückliche Ehe gewesen. „Die zwanziger Jahre müssen für sie eine wunderbare Zeit gewesen sein“, schwärmte Langenbach.
Es habe viele freundschaftliche und nachbarschaftliche Kontakte gegeben. Auch Großonkel Hans Albers sei ein paar Mal zu Besuch gewesen. Sie erzählte von einer glücklichen Kindheit in Blankenese, wo die Familie ihr Haus hatte. Dass bedrohliche Zeiten heraufzogen, davon hätten sie und ihre Spielkameradinnen und -kameraden anfangs nichts bemerkt. Doch die Besucher im Elternhaus wurden immer weniger, und dann habe es 1934 ihren Onkel – wie ihr Vater jüdischer Abstammung – getroffen. Der praktizierende Arzt sei mit falschen Anschuldigungen überzogen worden, wurde jedoch vor Gericht frei gesprochen. „Aber er hat sich davon nicht erholt“, sagte Langenbach.
Als Halbjüdin benachteiligt
1935 nahm er sich das Leben. Einige Jahre später wurde Langenbachs Vater die Approbation entzogen, auch er beging schließlich Suizid. Sie zog daraufhin mit ihrer Mutter in die Hamburger Innenstadt. An der neuen Oberschule habe sie als so genannte Halbjüdin das erste Mal Anfeindungen erlebt, ausgerechnet von ihrer Klassenlehrerin, einer bekennenden Hitler- Verehrerin. Ab 1942 durfte sie ohnehin keine Oberschule mehr besuchen. Nach Kriegsende machte sie dennoch ihr Abitur und begann 1951 ein Studium der Veterinärmedizin und Chemie in Gießen.
Zunächst sei alles erfreulich verlaufen, schilderte Langenbach, zu den Kommilitonen habe es freundschaftliche Beziehungen gegeben. Doch plötzlich wurde sie geschnitten, isoliert und gemobbt. Sie fand heraus, dass die Burschenschaft Germania die Anweisung gegeben hatte, nicht mit Juden zu verkehren, wogegen kein Verantwortlicher etwas unternahm. Bevor sie die Universität wechselte, habe sie sich von diesen Erfahrungen erst einmal in einer Klinik erholen müssen, stellte die Zeitzeugin ebenso nüchtern, sachlich und unaufgeregt fest, wie sie ihre ganze Biographie präsentiert hatte.
Obgleich Langenbachs Vater und Onkel christlich getauft waren, habe sie sich schließlich entschlossen, zum Judentum überzutreten. „Das war schlimmer als das Abitur“, sagte sie lächelnd über die dazu notwendige Prüfung, die von zwei strengen Rabbinern abgenommen worden sei. Heute gehört Dr. Katja Langenbach, die in der Grundlagenforschung und im Naturschutz tätig war, der Liberalen jüdischen Gemeinde Göttingen an. „Es gibt eine große Vielfalt im Judentum“, hob Howard Schultens hervor. Seine Frau Irene und er, die ebenfalls in der liberalen – und, wie sie unterstrichen, progressiven – jüdischen Gemeinde Göttingen aktiv sind, seien das beste Beispiel. Das Ehepaar brachte den Zuhörerinnen und Zuhörern auf unterhaltsame Weise nahe, wie jüdisches Leben sich heute gestaltet.
1964 waren die gebürtigen US-Amerikaner auf ihrer Weltreise in der Unistadt hängen geblieben. „Weltkrieg und Shoa waren damals schon kein Thema mehr hier“, erklärte Irene Schultens. In den USA habe es in den fünfziger Jahren noch viel Antisemitismus und an einigen Universitäten sogar Studienplatzbeschränkungen für Juden gegeben. In Deutschland hätten ihr Mann und sie hingegen frei studieren können. In ihrer liberalen Gemeinde, der eine Rabbinerin vorsteht, gelte ein sehr individueller Grundsatz: Jeder Mensch müsse seinen eigenen Weg zu Gott oder Göttin finden, verdeutlichte Schultens und schmunzelte: „Wir haben andere Rituale als streng orthodoxe Gemeinden, aber ein großes Feierbedürfnis.“
Transzendentale Gemeinschaft
Wichtig sei ihnen die transzendentale Gemeinschaft, in der man sich nicht nur über religiöse Fragen austauschen könne, erläuterte Howard Schultens. Beide haben deutsche Vorfahren, die als jüdische Immigranten in die USA gekommen waren, berichtete er.
Der wachsende Antisemitismus sei der Grund für sie gewesen, sich zu positionieren und ins Judentum „zurückzukehren“.Die große Publikumsrunde machte von der Möglichkeit, Fragen zu stellen, rege Gebrauch. Religion sei doch eine sehr persönliche Angelegenheit, warum werde dann so oft die Bezeichnung Jude oder Jüdin anders als beispielsweise bei Christen hervorgehoben, wollte eine Zuhörerin wissen. „Judentum ist keine Identität“, pflichtete ihr Irene Schultens bei, und Dr. Katja Langenbach bedauerte: „Die Juden“, egal ob religiös oder nicht, sei nach wie vor ein Sammelbegriff, der nicht aus den Köpfen zu kriegen sei. Über ein aktuelles jüdisches Gemeindeleben in Osterode wisse sie nichts, bekannte Moderatorin Brigitte Maniatis auf Nachfrage. Sie kenne einen Juden, der aber auch die Gemeinde in Göttingen besucht und nicht öffentlich auftreten wollte.
Für den musikalischen Rahmen des Erzählcafés sorgten Richard Chajec an der Gitarre und Cristina Esser am Akkordeon, Maniatis versuchte sich an drei jüdischen Liedern. Bei Getränken und Knabbereien, die die Wirtschaftsbetriebe Osterode gesponsert hatten und für die eine Spende zugunsten der jüdischen Gemeinde erbeten wurden, hatten Besucherinnen und Besucher Gelegenheit, sich im lauschigen Innenhof des Museums in weitere Gespräche zu vertiefen.
Zu der Veranstaltung wird eine CD herausgegeben, und unter www.vergissmeinicht-oha.de veröffentlicht die Agentur für Zeitzeugen und Erinnerungskultur einen Mitschnitt, kündigte die Moderatorin an.)