Göttingen. Ein ganzes Jahr beschäftigen sich Menschen mit dem Thema „1700 Jahre jüdisches Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands“. Der Historiker Peter Aufgebauer schreibt über die Geschichte der Juden in der Universitätsstadt Göttingen. Teil vier der Serie „Jüdisches Leben in Göttingen“ – Im Kaiserreich: Neue Möglichkeiten und neue Konflikte.
Modernisierung der Stadt
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts stieg die Bevölkerungszahl Göttingens rapide an und verdreifachte sich innerhalb von drei Generationen. Die Universität mit zunehmend differenzierten Forschungsansätzen und Wissenschaftszweigen bot vielfach Gelegenheit zu gewerblichen Neugründungen als technische Zulieferbetriebe für Chemie, Physik, Optik und Medizin. Auch die traditionellen Gewerbe wie das der Tuchmacher entwickelten sich weiter; die Firma Levin hatte um 1880 über 400 Arbeiter und 250 Arbeiterinnen in Lohn und Brot und nutzte Dampfmaschinen als Antrieb. Der Tuchmacher als Handwerker war zum Fabrikarbeiter geworden.
Begünstigt wurde der wirtschaftliche Aufschwung nicht nur durch den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, sondern auch durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen im 1871 begründeten Deutschen Kaiserreich mit Freizügigkeit, Gewerbefreiheit und dem Abbau wirtschaftlicher Zwänge.
Emanzipation
Ein Gesetz von 1871 verkündete die vollständige rechtliche Gleichstellung der Juden im gesamten Reichsgebiet: „Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Theilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntniß unabhängig sein.“
Die Gewerbefreiheit und Freizügigkeit begünstigen auch die Zuwanderung jüdischer Familien nach Göttingen. Zunächst kamen sie hauptsächlich aus dem Umland, aus Bremke, Adelebsen, Dransfeld und Bovenden, dann aber bald auch aus den preußischen Ostprovinzen. Aus dem jüdischen Trödelhandel entwickelten sich Geschäfte für Textilien und Bekleidung; auch für Manufakturwaren gab es bald Geschäfte, von denen einige schließlich zu Kaufhäusern wurden, aus der Geldleihe und dem Pfandhandel entwickelten sich einige jüdische Bankhäuser.
Jüdische Bevölkerung wächst
Der Zuzug jüdischer Familien geschah zunächst hauptsächlich auf Kosten der umliegenden Landgemeinden – deren Zahl ging von 18 in der Jahrhundertmitte zurück auf zehn im Jahre 1910, während die Zahl der in Göttingen lebenden Juden im selben Zeitraum von rund 200 auf über 600 anstieg. Entsprechend dem Anwachsen der jüdischen Bevölkerung differenzierten sich auch ihre beruflichen Tätigkeiten. Neben den Kaufleuten gab es jetzt auch Handwerker, daneben war der Vieh- und Getreidehandel ebenfalls in der Stadt vertreten, und insbesondere jüdische Pferdehändler betätigten sich im Transportgewerbe. Die Viehhändler Mendel Meininger und Sohn waren sogar kaiserliche und königliche Hoflieferanten. Ein ursprünglich ebenfalls ländliches Gewerbe war der Handel mit Fellen und Därmen, wie ihn Max und Raphael Hahn etablierten, oder mit Ölen und Fetten, wie ihn Mendel Nußbaum in der Stadt betrieb.
An der Roten Straße gab es den „Riesenbazar“ von Löwenstein & Söhne, das Göttinger Traditionsgewerbe der Textilherstellung und des Handels mit Textilien wurde um 1900 von zwölf jüdischen Familien betrieben, und der aus Adelebsen zugezogene Kaufmann Louis Gräfenberg gründete ein Manufaktur und Modewarengeschäft an der Weender Straße, wo sich heute das Geschäft C&A befindet. An der Groner Straße lagen der Betrieb und das Geschäft für Lederverarbeitung und Schuhe der Familie Silbergleit. Auch zwei Bankhäuser wurden von jüdischen Familien betrieben – dasjenige von Simon Frank und der „Göttinger Bankverein“ der Familie Benfey; er war an der heutigen Prinzenstraße ansässig und ging nach drei Generationen im Familienbesitz 1932 an die Commerzbank über.
Vermehrt konnten auch jüdische Gelehrte eine Professur an der Georgia Augusta erlangen, insgesamt waren es etwa zwanzig bis zum Ende des Kaiserreichs, aber nur vier von ihnen wurden Mitglied der Synagogengemeinde.
Die rechtliche Gleichstellung der Juden bedeutete nicht, dass sie auch gesellschaftlich integriert wurden. Nur in wenigen der zahlreichen Göttinger Vereine konnten sie Mitglied werden, und so gründeten sie selbst eine Reihe von jüdischen Vereinen: Kegelclub, Frauenverein, Bestattungsverein, eine Loge mit Schwesternbund.
Der Rabbiner Dr. Benno Jacob rief einen „Verein für Geschichte und Literatur der Juden“ ins Leben. Der 1893 im zeitlichen Zusammenhang mit den Reichstagswahlen gegründete „Deutsch-Israelitische Verein zu Göttingen“ hatte ausdrücklich zum Ziel, „über Erscheinungen des Antisemitismus zu belehren und sich gegen Angriffe desselben innerlich zu kräftigen.“
Die "neue Synagoge"
Die Synagoge stand an der Untere-Masch-Straße 13 in Göttingen.QUELLE: STÄDTISCHES MUSEUM
Aus dem Anwachsen der Gemeinde ergab sich bald die Notwendigkeit, eine neue und größere Synagoge zu errichten. Die Baukommission der Stadt lehnte das Vorhaben zunächst mehrfach ab. Schließlich erteilten aber der Hildesheimer Regierungspräsident und die Landdrostei als übergeordnete Behörden die Genehmigung. Auf dem Platz zwischen den beiden Maschstraßen konnte nach den Plänen des Göttinger Maurermeisters Freise ein frei stehendes Synagogengebäude mit rund 200 Plätzen errichtet werden. Die Synagoge wurde 1872 zu Rosh Haschana, dem Beginn des jüdischen Jahres, eingeweiht. Sie präsentierte den Übergang von traditionellen religiösen Gebräuchen zu Formen der Assimilation an die nichtjüdische Umwelt: Einerseits gab es eine Empore, auf der die Frauen noch getrennt von den Männern Platz nahmen, andererseits gab es bereits eine kleine Orgel. Eine Orgel aber gehört nach traditionellem Verständnis nicht in die Synagoge, weil das Orgelspiel am Schabbat als Arbeit zählt und deshalb untersagt ist, weil „in betrübter Erinnerung an den zerstörten Tempel“ im Gottesdienst keine Musikinstrumente erlaubt wären, und weil man die Orgel als Anbiederung an christliche Gottesdienstformen verstand und auch deshalb ablehnte.
Die Synagoge von 1872 bot aber nur für rund zwölf Jahre der rasch wachsenden Gemeinde genügend Platz. Bereits 1895 wurde ein Erweiterungsbau eingeweiht, den der Göttinger Architekt Hans Breymann entworfen hatte und der rund 450 Plätze bot. Die Finanzierung im Umfang von rund 20 000 Reichstalern erfolgte über Kredite allein durch die Gemeinde, ohne öffentliche Zuschüsse. Zur aufwendigen Ausstattung gehörten Malereien an den Wänden, Glasmalereien der Fenster, ein prächtiger Vorhang vor dem Toraschrein, ein mit Schnitzereien verzierter Stuhl für den Rabbiner und repräsentative Leuchter mitsamt ewiger Lampe. Die geplante Ausstattung des erweiterten Synagogenbaus führte zu Auseinandersetzungen um die jüdische Tradition einerseits oder eine Angleichung („Assimilation“) an Gebräuche der christlichen Umwelt andererseits. Konkret ging der Streit um Orgel und Ritualbad (Mikwe).
Um die historische Mikwe im Keller des jüdischen Kulturzentrums an der Roten Straße gab es vor ihrem Bau Meinungsverschiedenheiten. FOTO: CHRISTINA HINZMANN
Konflikt um die Orgel
Um die historische Mikwe im Keller des jüdischen Kulturzentrums an der Roten Straße gab es vor ihrem Bau Meinungsverschiedenheiten. Eine orthodoxe Minderheit, zu der aber gerade einige einflussreiche und wirtschaftlich sehr erfolgreiche Familien zählten, lehnte eine neue Orgel ab und bestand stattdessen auf dem Bau eines Ritualbads. Die liberale Mehrheit jedoch hielt eine Mikwe für „religiös veraltet und störend“, stimmte dem Bau aber zu, wenn die orthodoxe Minderheit die Kosten von 1000 Reichsmark übernehme. Unverzüglich wurde die Summe aufgebracht, aber der Vorstand der Synagogengemeinde ließ davon nicht die Mikwe bauen, sondern kaufte eine neue große Orgel der Firma Furtwängler aus Hannover.
Elf Juden mit ihren Familien traten daraufhin aus der Synagogengemeinde aus, darunter Raphael Hahn, Nathan Nußbaum sowie Abraham, Felix, Hermann und Jacob Löwenstein. Sie versammelten sich fortan abwechselnd in ihren Wohnungen zu Andacht und Gebet. Den Versuch der Synagogengemeinde, mit Hilfe des Göttinger Magistrats die Bildung einer Austrittsgemeinde zu verhindern, unterband der Regierungspräsident in Hildesheim, weil die orthodoxen Gebetsversammlungen nicht als öffentliche Gottesdienste anzusehen seien.
Als die Brüder Löwenstein 1899 an der Roten Straße ein großes Doppelhaus als Geschäfts- und Wohnhaus errichteten, konnten sie im Keller mit Stiftungsgeldern des Baron Rothschild für sich und andere orthodoxe Familien eine Mikwe einbauen. Heute befinden sich in dem Haus das koscher betriebene „Restaurant Löwenstein“ und die Räumlichkeiten der traditionell ausgerichteten jüdischen Kultusgemeinde mit Betraum und Mikwe.
Trotz des Konflikts blieben Verbindungen der Austrittsgemeinde zur liberalen Synagogengemeinde weiter bestehen. Die Gruppe bezahlte weiterhin ihre Gemeindesteuern, nahm am gesellschaftlichen Gemeindeleben teil und wurde weiterhin geistlich vom Rabbiner betreut.
Wachsender Antisemitismus
Die seit der rechtlichen Gleichstellung der Juden rasch anwachsende jüdische Einwohnerschaft, ihre verzweigten und vielfach wirtschaftlich erfolgreichen beruflichen Unternehmungen, ihre Präsenz in Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur, in Presse und Journalismus, verstärkten in bestimmten Kreisen der Bevölkerung das alte Vorurteil, die Juden seien ein Fremdkörper in der Gesellschaft und „Schmarotzer am Volkskörper“. Heinrich von Treitschke, der zeitweise einflussreichste preußische Historiker, der in Göttingen studiert hatte, prägte 1879 das Schlagwort „Die Juden sind unser Unglück.“
Andere, in ihrem Fach bedeutende Gelehrte, gingen weiter; so in Göttingen der Orientalist Paul de Lagarde. Er wurde 1869 als Nachfolger von Heinrich Ewald – einer der Göttinger Sieben – auf den Lehrstuhl für orientalische Philologie nach Göttingen berufen, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1891 wirkte. Als hervorragender Gelehrter (er war Herausgeber syrischer, arabischer, koptischer, griechischer, lateinischer und auch hebräischer Handschriften, Verfasser zahlreicher sprachwissenschaftlicher Abhandlungen, insbesondere zur griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, der Septuaginta) war er weltweit bekannt und anerkannt; zugleich aber war er auch berüchtigt als streitbarer politisierender Publizist. Seine polemischen Attacken richteten sich gegen den modernen Staat ebenso wie die etablierten Kirchen, vor allem den römischen Katholizismus. Insbesondere aber waren sie gegen das Judentum und gegen Juden ausgerichtet. 1878 ließ Lagarde folgendes drucken:
„Jeder fremde Körper in einem lebendigen andern erzeugt Unbehagen, Krankheit, oft sogar Eiterung und den Tod ... Die Juden sind als Juden in jedem europäischen Staate Fremde, und als Fremde nichts anderes als Träger der Verwesung.“ – Und einige Jahre später: „Es gehört ein Herz von der Härte der Krokodilhaut dazu, um mit den armen, ausgesogenen Deutschen nicht Mitleid zu empfinden und – was dasselbe ist – um die Juden nicht zu hassen, um diejenigen nicht zu hassen, die – aus Humanität – diesen Juden das Wort reden, oder die zu feige sind, dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten. Mit Trichinen und Bacillen wird nicht verhandelt, Trichinen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.“ Zu denen, die in Göttingen öffentlich dagegen protestierten, zählte an vorderster Stelle der Student der Geschichte, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften Ludwig Quidde. Er organisierte Versammlungen gegen Lagarde und dessen studentische Anhänger und veröffentlichte 1881 im Göttinger Verlag Robert Peppmüller die Kampfschrift „Die Antisemitismusagitation und die deutsche Studentenschaft“. Für seinen Pazifismus und seine Friedensarbeit erhielt Ludwig Quidde 1927 den Friedensnobelpreis. Auch der Göttinger Rabbiner Dr. Jacob trat öffentlich gegen den Antisemitismus auf, so 1892, als Max Liebermann von Sonnenberg, Reichstagsabgeordneter und einer der bekanntesten Antisemiten des Kaiserreichs, im größten Versammlungsraum der Stadt, dem Stadtpark-Saal, einen judenfeindlichen Vortrag über „Talmudmoral und Staatsbürgerrecht“ hielt. Mit einem Talmudexemplar der Universitätsbibliothek unterm Arm ging Dr. Jacob zur Versammlung, hörte sich zweieinhalb Stunden „niedrigster Demagogie“ an, betrat dann das Podium mit dem Talmud in der Hand und forderte den Redner auf, ihm „eine einzige Stelle, deren Moral sich nicht mit dem Staatsbürgerrecht verträgt“, zu zeigen. Der musste kleinlaut zugeben: „Ja, Hebräisch kann ich nicht.“ Rabbiner Jacob kommentierte: „So, … und dieser Herr, der selbst gesteht, dass er keinen hebräischen Buchstaben kennt, wagt es, zweiundeinehalbe Stunde über die Moral des Talmud zu reden, in dem er keine Zeile lesen kann.“ Max Liebermann von Sonnenburg ist in Göttingen nicht wieder aufgetreten.
Patriotismus
der liberalen jüdischen Mehrheit zur Annäherung an die christliche Umwelt zeigte sich nicht nur am Beispiel der Synagoge. Die jüdischen Kinder besuchten die Volks- und weiterbildenden Schulen, auf eine eigene jüdische Schule wurde verzichtet, und sichtbar häufte sich der Brauch, statt biblischer Vornamen die oft patriotisch klingenden deutschen Vornamen zu verwenden, etwa Siegfried, Bernhard, Friedrich, Mathilde oder Ingeborg. Jüdisch-deutscher Patriotismus und Identifizierung mit dem Kaiserreich zeigten sich auch in Göttingen beim Beginn des Ersten Weltkriegs; von den jüdischen Männern meldeten sich mehr als einhundert zum Kriegsdienst, neunzehn sind gefallen, wie es hieß, „für Kaiser und Reich“.
Info: Peter Aufgebauer ist ein Göttinger Historiker. Bis 2013 war er Professor am Institut für Historische Landesforschung. Seit seiner Emeritierung ist Aufgebauer Vorsitzender des „Geschichtsvereins für Göttingen und Umgebung“.