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Derisive posters, registration of Jews, and the last rabbi in Göttingen
by Peter Aufgebauer — Tuesday, January 11th, 2022 © Göttinger Tageblatt with permission


Mechthild Weß vom Kirchenkreisarchiv hat die Kopien von „Schmähplakaten“ aus der NS-Zeit gesammelt. Die ver- schiedenen Schmähschriften gegen den jüdischen Pastor Benfey sind auch auf Film gespeichert.


"Wir Deutsche jüdischer Abstammung werden als Fremde und Feinde des Vaterlandes behandelt. Man fordert, dass unsere Kinder in dem Bewusstsein aufwachsen, sich nie als Deutsche bewähren zu dürfen."
James Franck,Physik-Nobelpreisträger



Oben: Das Stammhaus der Firma Hahn an der Weender Straße.(Foto: Christina Hinzmann)
Unten: Gertrud und Max Raphael Hahn

Die erste deutsche Demokratie, die im Februar 1919 in Weimar proklamiert wurde, war von vorn herein mit schweren Hypotheken belastet; extreme Rechte und Linke standen dem parlamentarischen System ablehnend gegenüber, es kam zu Putschversuchen und politischen Morden an führenden Repräsentanten der Demokratie. Kurt Eisner, Ministerpräsident des Freistaats Bayern, und Walther Rathenau, Außenminister der Weimarer Republik, die Mordanschlägen zum Opfer fielen, waren auch Repräsentanten des deutschen Judentums.

In der linksliberal ausgerichteten Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die als staatstragende Neugründung an fast allen Kabinetten der Republik beteiligt war, engagierten sich auch in beachtlichem Maße die Göttinger Juden; der Kaufmann Hermann Jacob, Vorsteher der Synagogengemeinde, wurde Bürgervorsteher der DDP, der Mathematiker Felix Bernstein war örtlicher Parteivorsitzender, der Völker- und Staatsrechtler Julius Hatschek und der Historiker Paul Darmstädter standen der DDP nahe. Nicht nur wegen ihres linksliberalen Engagements, sondern auch wegen ihrer jüdischen Herkunft wurden sie in Wandzeitungen und Schmähartikeln angegriffen – gerade in der Universität und aus der Universität heraus.

Jüdische Wissenschaftler

Die Göttinger Universität galt seit den frühen zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts als „Mekka der Naturwissenschaften“. Neben den Mathematikern Felix Klein, Richard Courant und David Hilbert waren es vor allem James Franck, Max Born und Robert Wichard Pohl, die Studenten aus aller Welt anzogen. Auf dem Gebiet der Relativitätstheorie, der Quantentheorie und besonders der Quantenmechanik war Göttingen in den zwanziger Jahren weltweit führend – mehr als ein Dutzend spätere Nobelpreisträger haben damals hier studiert. Nicht nur Albert Einstein, der enge freundschaftliche Beziehungen nach Göttingen unterhielt, wurde zunehmend wegen seiner jüdischen Herkunft diffamiert, sondern auch Franck, Born, Courant, der Philosoph Leonard Nelson und andere. „Wissenschaft ist, wie alles, was Menschen hervorbringen, rassisch, blutmäßig bedingt“, proklamierte der Physiker und Nobelpreisträger Philipp Lenard; er forderte, ebenso wie der Physiker und Nobelpreisträger Johannes Stark, der einige Jahre in Göttingen gelehrt hatte, der angeblichen „jüdischen Physik“ eine „deutsche Physik“ entgegenzusetzen.

Gemeindeleben

Seit Beginn der zionistischen Bewegung gab es eine lebhafte Diskussion um ein Verbleiben im Lande oder Auswanderung nach Palästina („Heimkehr in das Land Israel“), auch in der Göttinger Gemeinde. Eine studentische zionistische Ortsgruppe organisierte Sprachunterricht in Iwrit und Vorträge über sozialistische jüdische Siedlungsproekte. Von den beiden jüdischen Studentenverbindungen war die Visurgia eher deutsch und national ausgerichtet, die Verbindung Bar Kochba dagegen betont zionistisch. Sie hatten neben den mehrheitlich nationalistisch und oft auch rassistisch orientierten Göttinger Verbindungen von vornherein einen schweren Stand – mehr als 60 Prozent der hiesigen Studentenschaft war in derartigen Verbindungen organisiert. Die Haltung und Ausrichtung in der Gemeinde wurden wesentlich von ihren Rabbinern geprägt und auch repräsentiert. Sie setzten sich – so Dr. Siegfried Behrens – besonders für die Abwehr des Antisemitismus ein und leisteten in ihren Predigten, aber auch publizistisch, einen wichtigen Beitrag zur Standortbestimmung jüdischer Existenz. Der letzte Göttinger Rabbiner während der Weimarer Republik, Dr. Bruno Finkelscherer, wurde 1933 aus dem Amt gedrängt und schließlich 1943 in Auschwitz ermordet. Angesichts der wirtschaftlichen Krisenzeit und der wachsenden Judenfeindschaft kam es bereits im Verlauf der Zwanzigerjahre zu Geschäftsaufgaben und Abwanderung; die jüdische Bewohnerschaft Göttingens ging von mehr als 600 Personen um rund ein Drittel zurück.

Gertrud und Max Raphael Hahn

Zu den einflussreichsten Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde zählten die Brüder Max Raphael und Nathan Hahn. Nach dem Ersten Weltkrieg wandten sie sich dem Reformjudentum zu und engagierten sich in der liberalen Gemeinde. Sie hatten ein beträchtliches Vermögen geerbt, zu dem unter anderem eine Fell- und Darmgroßhandlung gehörte, mit Export von Rohhäuten nach Übersee, ferner die Schuhfabrik „Gallus“ (= der Hahn). Der Industriehof an der Weender Landstraße, auf dem sich das Firmengelände befand, war ebenfalls im Besitz der Familien Hahn – der heutige Name „Galluspark“ erinnert daran. In der Gemeinde hatten die Brüder und ihre Ehefrauen nicht nur eine gewichtige Stimme, sondern übernahmen auch verschiedene Ehrenämter. Über 20 Jahre gehörte Max Raphael Hahn dem Vorstand an, bis zu seiner Vertreibung aus Göttingen. Wie nahezu alle vermögenden und gebildeten jüdischen Männer waren die Hahns auch Mitglieder der Moritz-Lazarus-Loge, deren Name an einen linksliberalen Philosophen erinnerte, der sich besonders für eine Verbindung von jüdisch-religiöser und nationaler Identität eingesetzt hatte. Der angegliederte „Schwesternbund“ der Loge wurde über viele Jahre von Gertrud Hahn geleitet.

Antisemitische Aktionen und Ausschreitungen

Die judenfeindliche Agitation des späten Kaiserreichs verstärkte sich schon in den ersten Jahren der Weimarer Republik erheblich. Bereits im Juli 1919 rief eine Ortsgruppe des sogenannten „Verbandes der Befreiung vom Judenjoch“ zum Boykott jüdischer Geschäfte auf. An der Gründungsversammlung dieses antisemitischen Vereins nahmen 170 Personen teil. Seit dem Sommer 1920 agitierten rechtsradikale Studenten vermehrt mit Parolen und Flugblättern gegen jüdische Professoren. Seit 1922 gab es in Göttingen eine Ortsgruppe der NSDAP, gegründet durch den Medizinstudenten Ludolf Haase. Der Göttinger Chemiestudent Achim Gercke begründete 1925 ein „Register sämtlicher Juden in Deutschland“, das in erweiterter Form später die „Säuberung“ der Universitäten und der öffentlichen Verwaltung ermöglichte. Eines der ersten Hefte befasste sich mit der Göttinger Universität und bezeichnete 32 Prozent der Lehrkräfte als „jüdisch“ oder „jüdisch versippt“. Im Jahre 1927 gründete sich ein „Nationalsozialistischer Studentenbund“, der 1931 die absolute Mehrheit im Studentenparlament erzielte und dessen Mitglieder auch in großer Zahl der SA angehörten.

Antisemitismus im Göttinger Tageblatt

Seit den frühen 20er Jahren betätigte sich die Zeitung unter ihrem Chefredakteur Dr. Viktor Wurm als Sprachrohr rechtsradikaler Parteien und Verbände, stellte kostenlos Anzeigenraum für ihre Propaganda zur Verfügung und sprach von der jüdischen Bevölkerung als „Parasiten am deutschen Volkskörper“ und von „ostjüdischem Gesindel“; das GT forderte ein „schärferes Zupacken“ und unterdrückte in seiner Berichterstattung den antisemitischen Terror der Göttinger SA. Ausführlich wurde über die Feier berichtet, die 1927 zum 100. Geburtstag des Antisemiten Paul de Lagarde in der Aula stattfand; bei diesem Anlass erhielt der nationalistische Schriftsteller Hans Grimm für sein Buch „Volk ohne Raum“ (1926) die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät.

Beginn der NS-Diktatur

Bereits im Jahr der Machtübernahme 1933 hatten die nationalsozialistische Regierung und ihre Behörden mehr als 300 Gesetze und Verordnungen erlassen, die sich gegen die jüdische Bevölkerung richteten. Ende März kam es in Göttingen zu organisierten Ausschreitungen durch die SA, die Schaufenster von mehr als 20 jüdischen Geschäften wurden zerstört oder beschmiert, die Synagoge wurde gestürmt, ihre Fenster zerschlagen und ihre Inneneinrichtung verwüstet. Drei Wochen später wurde Adolf Hitler Ehrenbürger der Stadt. Das Göttinger Tageblatt nahm keine Annoncen „jüdischer Betriebe“ mehr auf, die Stadt vergab keine Aufträge mehr an jüdische Firmen. Die Göttinger Rechtsanwaltskammer schloss Dr. Walter Proskauer und Dr. Friedrich Polak aus, der Landgerichtsdirektor Fritz Eichelbaum wurde entlassen, jüdische Ärzte verloren seit April 1933 ihre Kassenzulassung und später ihre Approbation. Aufsehen erregte die Beurlaubung von sechs jüdischen Professoren und Dozenten der Universität: Max Born, Richard Honig, Richard Courant, Emmy Noether, Felix Bernstein und Curt Bondy. Der Nobelpreisträger James Franck hatte bereits vorher sein Amt aus Protest gegen die antijüdischen Maßnahmen niedergelegt – statt Solidaritätsbekundungen aus der Universität wurde er im Göttinger Tageblatt von 43 Dozenten und Professoren öffentlich geschmäht. Allein in diesem ersten Jahr der NS-Herrschaft wurden in Göttingen 18 jüdische Betriebe aufgegeben. Durch die Nürnberger Rassegesetze von 1935 verloren die Juden den Status der Reichsbürgerschaft. Eheschließungen zwischen Juden und „Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“ wurden verboten. Nach der Definition, Jude sei, wer „von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt“, wurden viele Tausend Deutsche, die getauft waren, wieder zu Juden erklärt und rassistisch verfolgt. So wurde der evangelische Pfarrer an der Marienkirche Bruno Benfey, Urenkel von Isaak Philipp Benfey, nach Intrigen im Gemeindevorstand und öffentlichen Schmähungen 1936 aus dem Gottesdienst heraus im Talar verhaftet. Er überlebte das KZ Buchenwald und emigrierte in die Niederlande, wo er mithilfe eines nationalsozialistischen Pfarrers knapp der Deportation entging.

Der letzte Rabbiner

Zum jüdischen Neujahrsfest 1935 trat der erst 23-jährige Rabbiner Dr. Hermann Ostfeld sein Amt in Göttingen an. In seinen Erinnerungen berichtete er: „Ich traf fast alle Mitglieder der Gemeinde an jedem Freitagabend zur Einweihung des Schabbat und auch am Schabbatmorgen in der Synagoge. In jenen Jahren fühlten sich die Mitglieder der Gemeinde viel mehr als in normalen Zeiten zur Synagoge hingezogen. Alle kamen, um in der Nähe der Schicksalsgenossen Trost zu finden.“ Nach drei Jahren gab er sein Amt auf und konnte mit finanzieller Unterstützung durch die Brüder Max Raphael und Nathan Hahn ein Aufbaustudium an der Universität Jerusalem beginnen. Wenige Tage nach der Ankunft in Jerusalem erfuhr er von der Zerstörung „seiner“ Göttinger Synagoge in der Reichspogromnacht.

Info:

Peter Aufgebauer ist ein Göttinger Historiker. Bis 2013 war er Professor am Institut für Historische Landesforschung. Seit seiner Emeritierung ist Aufgebauer Vorsitzender des „Geschichtsvereins für Göttingen und Umgebung.