Die Pergamenturkunde von 1289, mit der Juden als vollberechtigte Bürger Göttingnes anerkannt wurden.
Foto: Swen Pförtne
Göttingen. Mit einem Festakt in der Kölner Synagoge eröffnete Bundespräsident Walter Steinmeier am 21. Februar 2021 das Themenjahr „1700 Jahre jüdisches Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands“.
Den historischen Anlass des Festjahres bietet eine Vergünstigung des römischen Kaisers Konstantin für die jüdische Gemeinschaft von Köln aus dem Jahre 321. In diesem Zusammenhang ist von Synagoge, Rabbinern und Synagogenvorstehern die Rede – das römische Köln besaß also im frühen 4. Jahrhundert eine etablierte und nach jüdischem Recht organisierte jüdische Gemeinde. Nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems und des jüdischen Tempels durch Titus im Jahre 70 nach Christus und dem durch spätere Vertreibungen und Ansiedlungsverbote erzwungenen Ende des jüdischen Staates ließen sich Juden vermehrt in den Städten des römischen Reiches nieder – zunächst um das Mittelmeer, dann auch in den römischen Provinzen.
Seit dem 11. Jahrhundert gehörten Juden auch zur Bevölkerung der ältesten mittelalterlichen Städte, die entlang des Rheins als Bischofsstädte gegründet und ausgebaut wurden: Speyer, Worms und Mainz. Der Bischof von Speyer, Rüdiger Huozmann, formulierte im Zusammenhang mit dem Ausbau der Stadt zur bischöflichen Residenz im Jahre 1084: „Als ich aus dem Dorf Speyer eine Stadt machte, glaubte ich, das Ansehen unseres Ortes dadurch tausendfach zu vermehren, dass ich auch Juden ansiedelte.“ Die Ansiedlung von Juden erhöht das Ansehen der Stadt! Sie erhielten ein abgegrenztes und durch Mauer geschütztes Wohnquartier, innerhalb dessen sie nach ihren Gewohnheiten und ihrem eigenen jüdischen Recht leben konnten.
1289 werden der Jude Moyse und seine Nachkommen Bürger
Im südlichen Niedersachsen kam es erst im 13. Jahrhundert unter der Landesherrschaft der welfischen Herzöge zur Gründung und Entwicklung von Städten mit Markt, Mauer und Stadtrecht. In diesem Zusammenhang ist aber ebenfalls von Juden die Rede, in Göttingen erstmals im Jahre 1289: Die welfischen Herzöge Albrecht von Braunschweig-Göttingen und Wilhelm von Braunschweig-Wolfenbüttel gestatten dem Göttinger Rat, den Juden Moyse und seine Nachkommen als vollberechtigte Bürger aufzunehmen. Der Text des Schriftstücks, das im Original als besiegelte Pergamenturkunde im Göttinger Stadtarchiv aufbewahrt wird, hat folgenden Wortlaut: „Wir Albrecht und Wilhelm, von Gottes Gnaden Herzöge von Braunschweig, machen hiermit öffentlich bekannt, dass wir nach reiflicher Erwägung unseren geliebten Ratsherren in Göttingen die Erlaubnis und Vollmacht geben, dass sie Moyse und seine Erben, unsere Juden, gemäß ihrem Stadtrecht aufnehmen und sie als vollberechtige Bürger behandeln sollen, und für sie ebenso wie für ihre anderen Bürger getreulich einstehen sollen. Zeugen dafür sind und anwesend waren die Edelherren Gottschalk von Plesse sowie seine Söhne Hermann und Otto, die Ritter Berthold von Adelebsen und Konrad von Rode und viele andere würdige Männer. Zu stärkeren Beachtung dieser Sache haben wir diese, ihnen deswegen übergebene Urkunde mit dem Abdruck unseres Siegels bekräftigt. Gegeben und verhandelt im Jahre 1289, am Dienstag nach dem Sonntag Invocavit“ [1. März].
Zweierlei ist hier bemerkenswert: Der Jude Moses (Moyse) und seine Angehörigen standen unter dem Schutz der fürstlichen Landesherren, die auch Stadtherren von Göttingen waren. Und dass die Göttinger Ratsherren von den Fürsten die Erlaubnis erhielten, Moses und seine Angehörigen nach Göttinger Stadtrecht als vollberechtige Bürger in die Stadt aufzunehmen, lässt darauf schließen, dass die Initiative vom Rat ausgegangen war und dass die Stadt ebendies von den Fürsten erbeten hatte.
Der Bedarf am Krediten wächst
In der sich entwickelnden Stadt, von Tuchproduktion und Tuchhandel geprägt und allmählich in das Handelsnetz der Hanse hineinwachsend, gab es zunehmend Bedarf an Krediten, an Geldleihe gegen Zinsen und Pfandhandel als Möglichkeit, kurzfristig Barmittel in die Hand zu bekommen. All dies war den Kaufleuten und Händlern nach kirchlicher mittelalterlicher Gesetzgebung untersagt - Zins und Wucher galten als ein- und das selbe, und Wucher war verboten. Und da die Juden nicht dem Kirchenrecht unterlagen, konnten sie sich in diesem Bereich betätigen. Andererseits blieben sie von der zünftigen Wirtschafts verfassung der Städte, von den Handwerken, ausgeschlossen, denn die Zünfte verstanden sich auch als christliche Zusammenschlüsse, die ihr Tagwerk zum Wohl der Gemeinschaft im gemeinsamen Gebet, der „Morgensprache", unter den Segen Gottes stellten.
Auch Moses, dem 1289 das Göttinger Bürgerrecht verliehen wurde, war offenbar für die Stadt als Finanzier, als Geld- und Pfandleiher von Interesse, denn in seinem Haus wurden Grundstücksgeschäfte abgewickelt:Im Jahre 1294 wurde ein Lehnsvertragzwischen Werner von Lauterberg und Hermann von Schneen „in Göttingenim Haus des Juden Moses" beurkundet. Aber nicht nur die Stadt, sondern auch die welfischen Herzöge als Stadt- und Landesherren hatten ein Interesse daran, Göttingen durch die Ansiedlung von Juden aufzuwerten und wirtschaftlich zu fördern. Seit der welfischen Erbteilung von 1271 war Göttingen die Residenz des welfischen Teilfürstentums Göttingen-Oberwald. So wurden hier zum Ausbau der jungen Residenzstadt neben den Juden auch Klöster der Franziskaner („Barfüßer") und der Dominikaner („Pauliner“) angesiedelt. Die Residenzburg „Bolruz" lag am Ritterplan nördlich des heutigen Städtischen Museums. Bereits eine Generation nach der Zuzugserlaubnis für Moses von 1289 ist im Jahre 1334 eine Synagoge in der nach ihr benannten Jüdenstraße erwähnt (auf dem Grundstück des heutigen Ledergeschäfts Blum) - es hatte sich also eine jüdische Gemeinde etabliert, die den Minjan aufbringen konnten, die zum Abhalten eines Gottesdienstes erforderliche Mindestzahl von zehn religionsmündigen männlichen Juden.
Als im Zusammenhang mit dem „Schwarzen Tod“, der großen Pestepidemie der Jahre 1348-1350, den Juden Brunnenvergiftung vorgeworfen und der größte Teil der jüdischen Gemeinden im Reich durch Mord und Vertreibung ausgelöscht wurde, warauch das jüdische Leben in Göttingen in gefährdet; zwar erließ Herzog Ernst im März 1348 ein Privileg, wonach die Juden „an Leib und Gut gleich anderen Bürgern Göttingens beschützt und beschirmt" werden sollten, aber dieser Schutz versagte: Der Göttinger Bürgermeister Willig führte um 1790 in seinen aus älterer Überlieferung zusammengestellten Nachrichten Folgendes auf: „1348 bey der grossen Pest, weil aber die Juden verdacht wurden als sollten sie die brunnen vergiftet haben, sind sie an seulen gebunden, gesteupet, verjaget und etliche hin". Auch der Göttinger Chronist Franciscus Lubecus berichtet in seiner um 1570 entstandenen Braunschweigischen Chronik von der Vertreibung und Ermordung der Juden in Göttingen. Ende des Jahres 1350 dann schenkte der Herzog dem Göttinger Rat das Haus „das einst die Judenschule Synagoge) war" - die älteste jüdische Gemeinde in Göttingen und dem südlichen Niedersachsen war ausgelöscht. Rund 20 Jahre sollte es dauern, bis sich erneut Juden in Göttingen ansiedeln durften.
Prof. Peter Aufgebauer
Foto: Christoph Mischke (Archiv)
Info: Peter Aufgebauer ist ein Göttinger Historiker. Bis 2013 war er Professor am Institut für Historische Landesforschung. Seit seiner Emeritierung ist Aufgebauer Vorsitzender des „Geschichtsvereins für Göttingen und Umgebung“.